DEVISENWOCHE

Flüchtlingskrise und der drohende "Brexit"

Von Sonja Marten *) Börsen-Zeitung, 24.11.2015 Im Mai 2015 war es dem britischen Premierminister David Cameron gelungen, einen überraschend deutlichen Wahlsieg zu erringen. Allen Umfragen zum Trotz konnte seine Konservative Partei eine Mehrheit im...

Flüchtlingskrise und der drohende "Brexit"

Von Sonja Marten *)Im Mai 2015 war es dem britischen Premierminister David Cameron gelungen, einen überraschend deutlichen Wahlsieg zu erringen. Allen Umfragen zum Trotz konnte seine Konservative Partei eine Mehrheit im Parlament erlangen – ein Erfolg, mit dem niemand gerechnet hatte. Im darauffolgenden Siegestaumel (zusätzlich durch die Erleichterung darüber befeuert, dass ein monatelanges Tauziehen um die Regierungsmacht verhindert wurde) schien nichts unmöglich. Ganz oben auf der politischen Agenda stand schon damals das EU-Referendum, das Premierminister Cameron den Briten schon vor der Wahl versprochen hatte. Im Nachgang zur Wahl wurde sogar spekuliert, dass Cameron das Referendum vorziehen, die Briten also schon 2016 abstimmen lassen könnte, anstatt bis Ende 2017 zu warten. Die Flüchtlingskrise hat dem Premierminister aber nun einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Waren die Briten im Frühjahr noch mehrheitlich für einen Verbleib in der EU, ist die Stimmung in den vergangenen Wochen und Monaten dramatisch gekippt. Ein Brexit, also ein Austritt Großbritanniens aus der EU, ist damit heute wahrscheinlicher als je zuvor. Emotionale DistanzDas Verhältnis der Briten zur EU ist von jeher schwierig. Rational betrachtet, profitieren die Briten ohne Frage von ihrer Mitgliedschaft. Emotional aber lehnen sie sich immer wieder gegen die enge Anbindung an den Kontinent auf. Sie fühlen sich von Brüssel bevormundet, beäugen mit großem Misstrauen die Bemühungen der EWU-Regierungschefs, die Union enger zusammenzubringen, und haben Sorge, dass nationale Interessen hinter den übergeordneten Interessen der EU zurückbleiben könnten. Die vergangenen Jahre haben nicht eben dazu beigetragen, diese Ängste zu beruhigen. Im Gegenteil, die Furcht davor, in den Krisenstrudel mithereingezogen zu werden, hat die Skepsis der Briten gegenüber der EU eher verstärkt.Selbst im Frühjahr dieses Jahres, als die Umfragewerte für das Referendum äußerst vielversprechend aussahen, war klar, dass es ohne strukturelle Veränderungen seitens der EU schwierig sein würde, die Briten dauerhaft von den Vorzügen der Mitgliedschaft zu überzeugen. Doch David Camerons Plan, aus einer Position der Stärke heraus in die Verhandlungen mit der EU zu gehen, scheint nun an der Flüchtlingskrise zu scheitern.Der nicht-abreißende Strom an Zuwanderern hat die Briten in Angst und Schrecken versetzt. Lange schon hatten sie mit der unkontrollierten Zuwanderung aus dem Rest der EU gehadert, die Dimensionen der jüngsten Welle überfordert sie komplett. Sie verlangen klare Maßnahmen von ihrer Regierung, Maßnahmen, die Cameron der EU nur schwerlich verkaufen wird können. Kritisches Thema MigrationDie Reformagenda, die der Premierminister erst kürzlich vorgestellt hat, enthält ohne Zweifel Elemente, die unter den anderen EU-Staaten (vor allem den Nicht-Mitgliedern der Währungsunion) auf Zustimmung stoßen dürften. Unter anderem geht es um verbesserte Wettbewerbsfähigkeit und die Wahrung nationaler Interessen (und der gleichzeitigen Beschneidung der Macht des EU-Parlaments). Kritisch, zumindest aus Sicht der EU, wird es beim Thema Migration. Um die Fairness der sozialen Systeme gewährleisten zu können, möchte David Cameron nicht nur die Zuwanderung aus dem Nicht-EU-Ausland kontrollieren, sondern auch die Zuwanderung aus anderen EU-Ländern reduzieren. Unter anderem soll dies durch eine Reduktion der Sozialleistungen an Einwanderer erreicht werden. Hiermit tut sich die EU schwer: In Brüssel befürchtet man, die Briten könnten versuchen das Freizügigkeitsabkommen durch die Hintertür zu umgehen. Ein Spiel mit dem FeuerEs dürfte für David Cameron also schwierig, wenn nicht gar unmöglich werden, seine Reformvorschläge in Brüssel in vollem Umfang durchzusetzen. Zum einen dürften Merkel und Co. wenig Neigung verspüren, dem britischen Bedürfnis nach Sonderbehandlung (mal wieder) nachzukommen, zum anderen haben die EU-Regierungschefs momentan wahrlich andere Sorgen. Hinzu kommt, dass Angela Merkel David Cameron schon in der Vergangenheit signalisiert hatte, dass die Geduld der EU nicht unendlich ist und man sich von London nicht erpressen lässt. Der Druck auf Cameron steigt also – von beiden Seiten.Innenpolitisch könnte sich das Referendum, dessen Erfolg noch im Mai so sicher erschien, zu einem Desaster für David Cameron entwickeln. Die EU zeigt bislang wenig Neigung, ihm in seinen Reformbemühungen entgegenzukommen. Gleichzeitig wächst der Druck aus der Bevölkerung. Die Umfragewerte für das Referendum haben sich dramatisch verschlechtert: Laut Yougov würde derzeit eine Mehrheit der Briten für den Austritt stimmen. Dies ist ohne Frage primär der Flüchtlingskrise geschuldet, doch der Strom an Zuwanderern wird nicht versiegen. Das Problem wird also bestehen bleiben und damit den Weg zu einem aus Sicht Camerons erfolgreichen Referendum blockieren. Betrachtet man die politische Landschaft in Großbritannien, müsste ein Referendum zwar eigentlich gute Chancen haben (ausdrücklich für einen Austritt aus der EU sind im Grunde genommen nur die Unterstützer von UKIP), leider ist dies aber eine hochemotionale Debatte, in der rationale Argumente oft auf der Strecke bleiben.Die Probleme, die mit einem Brexit einhergehen, könnten Großbritannien sogar schon im Vorlauf des Referendums deutlich belasten. So ist damit zu rechnen, dass die Investitionstätigkeit in Anbetracht der massiven Unsicherheit nachlässt. Dies betrifft vor allem Direktinvestitionen aus dem In- und Ausland, die oft einen Planungshorizont von fünf bis zehn Jahren haben. In den kommenden Monaten könnte sich dies in den BIP-Daten Großbritanniens niederschlagen.Käme es zum tatsächlichen Bruch, wären die Auswirkungen natürlich ungleich schwerwiegender. Alle Bereiche der britischen Wirtschaft wären dann betroffen, nicht zuletzt der für die Gesamtwirtschaft weiterhin sehr wichtige Finanzsektor.Der britische Flirt mit dem Brexit gleicht daher einem Spiel mit dem Feuer. David Cameron wird alles daran setzen, in Brüssel die versprochenen Erfolge zu erzielen. Scheitert er, bleibt nur zu hoffen, dass die Briten im kritischen Moment an der Urne rational handeln und sich nicht von populistischen Parolen leiten lassen.—-*) Sonja Marten ist Leiterin des Devisen-Research der DZ Bank.