Für Europas Gaspreise gibt es hohe Risiken
Für Europas Gaspreise gibt es hohe Risiken
Russland liefert wieder mehr Erdgas an Europa als die USA – Weitere EU-Sanktionen könnten starke Auswirkungen zeigen
Der EU-Erdgaspreis ist wieder deutlich höher als im Frühjahr. Die politischen Risiken weiten sich aus, zumal die Bedeutung Russlands als Erdgaslieferant der EU inzwischen wieder größer ist als diejenige der USA. Der Wiederaufstieg Russlands als Lieferant überrascht angesichts der EU-Pläne zur kompletten Abtrennung.
ku Frankfurt
Russland war vor dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs der mit Abstand dominierende Lieferant für Erdgas in Europa. Inzwischen hat diese Rolle Norwegen übernommen, wobei aber die USA dank der Vormachtstellung bei den Lieferungen von teurem LNG-Flüssiggas auf den zweiten Platz aufrückten. Russland war weit abgeschlagen, holt aber nun wieder spürbar auf. Nach Berechnungen der Beratungsfirma Independent Commodity Intelligence Service (ICIS) hat Russland erstmals wieder die USA als Lieferant von Erdgas in Europa abgelöst, wobei Europa definiert wird als die EU, Großbritannien, Schweiz, Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie Nordmazedonien. Im vergangenen Monat kam 15% des in dieser Region verbrauchten Erdgases aus Russland in Form von Leitungsgas und LNG, während die USA nur noch 14% beisteuerten – zeitweilig waren es im Jahr 2023 auch schon 20%.
Die Erholung des Anteils Russlands an den Lieferungen überrascht, ist es doch das erklärte Ziel der EU-Kommission und der Regierungen vieler Mitgliedsländer, sich komplett von Russland abzunabeln. Noch ist aber nicht klar, ob es sich beim Mai dieses Jahres um eine Ausnahmeerscheinung handelt. Davon geht jedenfalls ICIS aus. Die Experten erwarten, dass Russland im Sommer über den nördlichen Seeweg in der Arktis große Mengen von LNG nach Asien liefern wird, während in den USA mit einer Wiederzunahme der LNG-Exporte zu rechnen sei.
Mit Blick über das Jahresende hinaus könnte es sogar auf eine sehr deutliche Reduzierung der Erdgasimporte aus Russland hinauslaufen, weil Ende 2024 der Vertrag zwischen dem ukrainischen Gasnetzbetreiber und der russischen Gazprom zur Durchleitung von russischem Erdgas ausläuft und die ukrainische Seite erklärt, sie habe trotz der hohen Einkünfte aus diesem Vertrag kein Interesse an einer Fortsetzung. Die Durchleitung macht – auch nach der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines mit einer Kapazität von 59 Mrd. Kubikmetern im Jahr 2021 – immer noch 14 Mrd. Kubikmeter pro Jahr aus. Dies entspricht in etwa der Menge, die die Niederlande über das Winterhalbjahr verbrauchen. Beachtet werden müssen dabei regionale Besonderheiten: So ist beispielsweise Österreich mit 7 Mrd. Kubikmetern Verbrauch pro Jahr praktisch komplett auf die Lieferungen über die Ukraine angewiesen. Lieferungen über die südlich verlaufende Turkstream-Pipeline, die die Ukraine umgeht, sind dabei kein brauchbarer Ersatz, weil diese Pipeline nur eine Kapazität von 4 Mrd. Kubikmetern pro Jahr hat.
Hohe Nervosität
Der europäische Spotmarkt für Erdgas reagiert mit hoher Nervosität, wenn sich Anzeichen dafür zeigen, dass mit einem Ausfall der russischen Lieferungen zu rechnen ist. So hatte die österreichische OMV Ende Mai davon berichtet, dass es rechtliche Risiken für Zahlungen an Gazprom gibt, die in einem russischen Lieferstopp resultieren könnten. Der Monatskontrakt für Erdgas am virtuellen niederländischen Übergabepunkt TTF war daraufhin von zuvor knapp über 20 Euro je Megawattstunde im Februar auf gegenwärtig knapp unter 40 Euro geklettert. Die Analysten von ICIS weisen darauf hin, dass die Ukraine zwar betont habe, dass Verhandlungen mit Russland nicht möglich seien, solange der Krieg weitergehe. Dennoch gebe es laut ICIS wohl die Möglichkeit, dass europäische Abnehmer mit langfristigen Verträgen über die Ukraine weiter versorgt würden. Insofern habe es am Markt eine „moderate Zuversicht“ gegeben, dass der Transport über die Ukraine auch 2025 fortgesetzt werde.
In diesem Umfeld habe die Nachricht von OMV für Alarmstimmung gesorgt, dass „ein ausländisches Gericht“ erwirken könne, dass OMV ihre Zahlungen an Gazprom an „einen europäischen Energiekonzern“ umleiten müsse. Nähere Informationen gab es nicht, was zur Verunsicherung beitrug. Nach Einschätzung von ICIS könnten auch russische Kunden in Ungarn, der Slowakei, Griechenland oder Serbien betroffen sein. Dies würde dann bedeuten, dass auch Lieferungen über Turkstream nicht mehr bezahlt werden könnten.
ICIS hat mithilfe der eigenen Prognosemodelle Szenarien des vollständigen und teilweisen Ausfalls der russischen Pipeline-Lieferungen durchgespielt und kommt zu dem Ergebnis, dass die Erdgasversorgung Europas sicher sei und dass sich die Preisanstiege in engen Grenzen hielten, sofern die Versorgung mit LNG gewährleistet sei. Allerdings sei die EU dann viel stärker der Dynamik des LNG-Weltmarktes ausgesetzt.
Sperrung der Ostsee
Es gibt aber darüber hinausgehende politische Risiken. Die EU hat 2023 rund 15,6 Mill. Tonnen russisches LNG-Gas gekauft, 40% mehr als 2022. Die jüngsten zusätzlichen Sanktionen betrafen russische LNG-Transporte durch die EU, ferner sollte es Mitgliedsländern gestattet werden, den Import von russischem LNG zu verbieten. Zudem hat der dänische Außenminister Lars Løkke Rasmussen jetzt wieder die Sperrung der Ostsee für russische Tanker – hier zunächst nur Öltanker – ins Spiel gebracht, was die Spannungen in der Ostsee extrem anheizen würde, wobei eben auch russische LNG-Lieferungen in die EU über die Ostsee laufen. In Abhängigkeit von den politischen Entscheidungen der EU bestehen somit nach wie vor deutliche Risiken für die europäische Gasversorgung und damit auch für die Energiepreise.