TECHNISCHE ANALYSE

Für einen Abgesang auf die Rally ist es zu früh

Von Jörg Scherer *) Börsen-Zeitung, 22.11.2017 Man soll den Tag zwar nicht vor dem Abend loben, doch zu Jahresbeginn hatten wohl nur wenige Investoren eine derart freundliche Aktienmarktentwicklung für 2017 auf der Rechnung. Bleiben in den letzten...

Für einen Abgesang auf die Rally ist es zu früh

Von Jörg Scherer *)Man soll den Tag zwar nicht vor dem Abend loben, doch zu Jahresbeginn hatten wohl nur wenige Investoren eine derart freundliche Aktienmarktentwicklung für 2017 auf der Rechnung. Bleiben in den letzten Wochen des Jahres größere Störfeuer aus, winken sowohl dies- als auch jenseits des Atlantiks sogar die besten Aktienjahrgänge seit 2013. Doch wird es auch im neunten Jahr ihres Bestehens zu einer Fortsetzung der Rally kommen oder stellt das mittlerweile erreichte Niveau nicht doch zusehends eine Bürde für die internationalen Aktienmärkte dar?Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir zunächst auf den S & P 500 eingehen. Während sich der heimische Dax im Sommer wie auch in der jüngsten Vergangenheit korrekturanfällig zeigte, eilten die amerikanischen Standardwerte weiterhin von einem Hoch zum nächsten. Der Aufschwung ist also nicht nur absolut intakt, sondern inzwischen konnte das Aktienbarometer sein Allzeithoch bis auf 2 597 Punkte ausbauen.An dieser Stelle müssen wir ein paar Worte zum grundsätzlichen Ablaufmuster von Trendwenden an den Aktienmärkten verlieren. Während die untere Umkehr regelmäßig schnell und dynamisch vonstattengeht, kommt es auf der Oberseite typischerweise zu einem längeren Distributionsprozess. Das heißt, charakteristisch für die obere Trendwende ist die Ausprägung einer charttechnischen Toppformation oder zumindest das Abarbeiten an wichtigen Widerständen, die auch unter zeitlichen Aspekten nicht von heute auf morgen über die Bühne geht. Ein solches Umkehrmuster lässt sich beim S & P 500 derzeit beim besten Willen nicht identifizieren. Keine negative DivergenzDieses Argument lässt sich noch vertiefen, indem Investoren die Advance-/Decline-Linie – also den Saldo aus gestiegenen und gefallen Aktien für alle an der Nyse notierten Papiere betrachten. Zunächst einmal strebt auch der älteste Marktbreiteindikator der Welt weiterhin von Rekord zu Rekord. Mit anderen Worten: Die laufende Rally wird unverändert von der Mehrzahl der Aktien getragen. Charakteristisch für eine Trendwende ist indes, dass in der Spätphase der Hausse nur noch wenige hochkapitalisierte Titel den entsprechenden Index auf neue Hochs treiben, während die Mehrheit der Aktien bereits nach Süden tendieren. Auch eine solche negative Divergenz zwischen A-/D-Linie einerseits und den amerikanischen Auswahlindizes andererseits liegt aktuell nicht vor.Interessant ist in diesem Kontext wie sich das Marktbreitebarometer bei den vorangegangenen Trendwenden verhalten hat. Sowohl 2002/03 als auch 2007/08 kam es jeweils zu einer divergenten Entwicklung zwischen der A-/D-Linie und den amerikanischen Standardwerten. Der letzte große Marktwendepunkt im Jahr 2009 wurde zwar nicht durch eine positive Divergenz vorweggenommen, doch im Verlauf des Marktbreiteindikators wurde ein kleiner Doppelboden ausgeprägt. Eine spiegelbildliche negative Divergenz oder eine Toppbildung im Verlauf der Advance-/Decline-Linie fehlt derzeit aber völlig, so dass Anleger kein unmittelbares Wegbrechen der amerikanischen Aktienmärkte zu befürchten haben. Ohne einen Bruch der Kreuzunterstützung aus dem ehemaligen Allzeithoch vom August (2 491 Punkte) und dem Aufwärtstrend seit April 2017 (aktuell bei 2 486 Punkten) sollten Anleger deshalb nach dem Motto “The trend is your friend” verfahren.In Deutschland gestaltet sich die charttechnische Ausgangslage aufgrund der jüngsten Verschnaufpause anders. Schließlich brachte das jüngste Luftholen einen ernsthaften Stresstest der Dax-Haltezone aus dem alten Allzeithoch (12 952 Punkte) und verschiedenen Tiefs bei rund 12 900 Punkten. Vor diesem Hintergrund betonen wir diesseits des Atlantiks besonders die Notwendigkeit eines strikten Money Managements. Strategische RückzugslinienUm technisch sinnvolle Stopp-Loss-Marken herauszuarbeiten, bietet sich aktuell besonders der Blick auf den CDax an. Der marktbreiteste aller heimischen Auswahlindizes fasst alle im General und Prime Standard der Frankfurter Börse notierten deutschen Unternehmen zusammen. Nachdem der Index praktisch während des gesamten Jahres 2016 einer Belastungsprobe des langfristigen Aufwärtstrends seit 2009 (aktuell bei 1 097 Punkten) ausgesetzt war, steht mittlerweile auch hier ein neuer Rekordstand (1 251 Punkte) zu Buche. Der langfristige Aufwärtstrend ist also absolut intakt. Unter dem Blickwinkel des Stoppmanagements ist zunächst die Kombination aus dem Aufwärts-Gap vom Oktober (1 192 zu 1 190 Punkten) und dem ehemaligen Allzeithoch vom Juni bei 1 189 Punkten ins Feld zu führen. Die Bedeutung dieser Bastion wird zusätzlich durch die Tatsache unterstrichen, dass die letzten beiden Monatstiefs (1 192 Punkte) jeweils in diesem Dunstkreis ausgeprägt wurden. Für noch wesentlich wichtiger halten wir allerdings die Kumulationszone bei rund 1 100 Punkten. Auf diesem Niveau fällt das Hoch vom April 2015 (1 108 Punkte) mit dem Tief vom August 2017 (1 102 Punkte) sowie dem oben genannten Basisaufwärtstrend zusammen. Erst unterhalb dieser Kumulationszone droht der deutsche Aktienmarkt ernsthaften charttechnischen Schaden zu nehmen. Für einen Abgesang auf die internationalen Aktienmärkte ist es deshalb nach wie vor zu früh.—-*) Jörg Scherer ist Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland.