GASTBEITRAG ZUR SERIE ANLAGETHEMA IM BRENNPUNKT (61)

Gefangene der EZB - Wege aus dem Zinsdilemma

Börsen-Zeitung, 2.3.2019 Wir befinden uns im fünften Jahr der extremen Niedrigzinsen in der Eurozone, und noch immer mag man sich nicht so recht daran gewöhnen. Schlimmer noch: Anleger scheinen jeden Tag aufs Neue zu hoffen, dass dieser Spuk bald...

Gefangene der EZB - Wege aus dem Zinsdilemma

Wir befinden uns im fünften Jahr der extremen Niedrigzinsen in der Eurozone, und noch immer mag man sich nicht so recht daran gewöhnen. Schlimmer noch: Anleger scheinen jeden Tag aufs Neue zu hoffen, dass dieser Spuk bald vorbei ist und das Sparbuch wieder einträgliche Renditen bringt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Der Schaden ist dann allerdings schon angerichtet. Wer sich nicht beizeiten darauf einstellt, für den wird es in der Zukunft ein böses Erwachen geben – durch den realen Kaufkraftverlust seiner Ersparnisse. Lower for longerFassen wir kurz zusammen: Die EZB weigert sich weiterhin, signifikante Zinserhöhungen ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Das dürfte sich auch nicht groß ändern, wenn EZB-Präsident Mario Draghi im Oktober in den Ruhestand geht. Der Grund dafür ist nicht in Deutschland zu suchen. Hierzulande erzielen die öffentlichen Haushalte, auch dank der anhaltenden Niedrigzinsen, Rekordüberschüsse. 2019 wird die Staatsverschuldung aller Voraussicht nach erstmals seit 2002 wieder unter die in den Maastricht-Verträgen vorgesehene Obergrenze von 60 % fallen – seit 2012 ein beachtlicher Abbau von rund 20 Prozentpunkten.Ganz anders sieht es im Süden Europas aus. Dort wurden die künstlich niedrig gehaltenen Zinsen eher als Einladung verstanden, es mit dem Schuldenabbau nicht ganz so genau zu nehmen. Seit 2014 verharren die Staatsschulden in Spanien und Italien recht stabil bei 100 % und 130 % des Bruttosozialprodukts. Anämisches Wachstum und hohe Ausgaben lassen hier auf absehbare Zeit auch keine deutliche Besserung erkennen. In so einer Konstellation sind der Europäischen Zentralbank, anders als den Notenbankern jenseits des Atlantiks, die Hände gebunden. Des einen Freud …Wer sein Eigenheim die nächsten zehn Jahre für unter 1 % finanzieren kann, wird sich vermutlich kaum über das aktuelle Zinsumfeld beschweren. Was für die Bundesrepublik gilt, gilt auch für private Schuldner: Beschleunigter Schuldenabbau dank niedriger Zinsen führt zu einer relativen Wohlstandsmehrung.Auf der anderen Seite aber stehen nur Verlierer. Das traditionelle Bankgeschäft lebt von der Fristentransformation und dem entsprechenden Bespielen der Zinsstrukturkurve. Die aktuell negativen Renditen für Bundesanleihen bis in die neunjährigen Laufzeiten hinein machen das fast unmöglich. Jetzt mag sich das Mitleid des Normalbürgers mit den Banken in Grenzen halten. Versteht man aber die Transmissionsfunktion des Bankwesens für die Gesamtwirtschaft und sieht die erheblichen Performance-Unterschiede zwischen US-Banken und vielen europäischen Geschäftsbanken, ist das durchaus besorgniserregend.Der Leidtragende ist aber vor allem auch der Kapitalanleger. Im dritten Quartal 2018 übertraf das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland nach Berechnungen der Bundesbank erstmals die Schwelle von 6 Bill. Euro. Dass diese Größe in den vergangenen Quartalen kontinuierlich gewachsen ist, lässt sich ganz überwiegend auf die robuste Konjunktur und den eisernen Sparwillen der Deutschen zurückführen. Mehr als ein Drittel dieser Summe fristet allerdings in Form von Sicht-, Termin- oder Spareinlagen ein weitestgehend zinsloses Dasein und führt mit Blick auf die gleichzeitig rasant steigenden Preise vieler Realgüter zur schleichenden Enteignung seiner Eigentümer.In der klassischen Volkswirtschaftslehre und auch in der Wahrnehmung des Volkes ist der Zins eine Belohnung für Konsumverzicht. Den Umkehrschluss hatte die EZB mit der beispiellosen Senkung der Leitzinsen unter die Nulllinie im Sinn: Kann man sich morgen mit seinem Geld weniger leisten als heute, ist man geneigter, schon heute zu konsumieren. Das klingt logisch und hat die Konjunktur in der Eurozone vermutlich auch vor Schlimmerem bewahrt. Die langfristigen Auswirkungen auf zentrale Themen wie Altersvorsorge sind allerdings gravierend, insbesondere in einem Land wie Deutschland mit seiner demografischen Entwicklung. Wer die Bevölkerung vom Sparen abhält, ohne gleichzeitig wichtige strukturelle Problem zu adressieren, der schönt kurzfristig die Bilanzen und verlagert stetig wachsende Risiken nur auf der Zeitachse.Der Anleger aber ist gefangen in einem echten Dilemma. Wenn in diesen Tagen rund elf Millionen Riester-Sparer Post von ihrer Versicherung bekommen, werden die laufenden Erträge bei vielen womöglich nicht einmal reichen, die Vertriebs- und Verwaltungskosten zu decken. Da ist das Wort “Sparer” dann eher fehl am Platze. Das Prisoner’s DilemmaDie Situation mit dem sparwilligen Deutschen auf der einen und der EZB auf der anderen Seite erinnert an eine der bekanntesten Konstellationen der Entscheidungstheorie: das sogenannte “Prisoner’s Dilemma”. Die Höhe der Strafe des einzelnen Täters für eine gemeinschaftlich begangene Tat hängt dabei nicht nur von seiner eigenen Aussage ab, sondern auch davon, ob der jeweils andere im getrennten Verhör gesteht oder schweigt. Soll der einzelne Bürger sich jetzt auf den “Haupttäter” EZB verlassen und konsumieren, auch auf die Gefahr hin, im Alter mit leeren Händen dazustehen? Nur mit der unsicheren Aussicht, dass sich dadurch die Konjunktur bessert und vielleicht sein Arbeitseinkommen und die Rentenhöhen steigen?In Japan, dem besten Beispiel für Nullzinspolitik und eine alternde Gesellschaft, ist die Sparquote seit den 1980er-Jahren von über 20 % auf heute nahe 0 % gefallen. Gleichzeitig ist die Altersarmut zu einem erdrückenden Problem geworden. Dieses Beispiel mag Warnung genug sein.Das Prisoner’s Dilemma lässt sich mathematisch lösen, indem aus den verschiedenen Optionen die dominante Strategie berechnet wird. Und eine dominante Strategie gibt es unseres Erachtens auch für langfristig orientierte Sparer. Sie sollten sich lediglich zwei Größen merken: 6 % und 4 %. Erstere ist die durchschnittliche Rendite europäischer Aktien seit den 1950er-Jahren. Letztere ist gerundet die aktuelle Dividendenrendite des Aktienindex MSCI Europa. Konsumverzicht kann sich also doch rentieren. Alles eine Frage der richtigen Strategie.—-Zuvor erschienen:Nachhaltigkeit macht das Rennen bei Schwellenländeranleihen (60), BNP Paribas Asset ManagementChinas Anleihemärkte öffnen sich – doch muss man als Erster durch die Tür? (59), DWS —-Pascal Spano, Leiter Research Metzler Capital Markets