Hausse wird zunehmend ein Problem
Von Christopher Kalbhenn,
Frankfurt
Mit Nervosität verfolgen die Akteure an den Finanzmärkten die Nachrichten von der Inflationsfront. Weltweit ziehen die Preise stark an und schüren Befürchtungen, dass der Anstieg vielleicht doch nicht nur ein Corona-Effekt ist, der, wie die Zentralbanken glauben, nur vorübergehend ist, so dass der ultralockere geldpolitische Kurs ohne Bedenken aufrechterhalten werden kann.
Zu den Bereichen, die einen starken Preisauftrieb erleben, zählen Nahrungsmittel. Nach einer zweimonatigen Pause haben die globalen Nahrungsmittelrohstoffpreise im August wieder an ihren Höhenflug angeknüpft. Der Food Price Index der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) stieg auf 127,4 Punkte und erreichte damit fast wieder sein Junihoch von 127,8 Zählern. Damit haben sich die Nahrungsmittelpreise innerhalb von zwölf Monaten um rund 33% erhöht. In sämtlichen fünf Unterkategorien haben die Preise prozentual zweistellig angezogen, darunter Getreide mit einem Anstieg von rund 31%. Die deutlichsten Verteuerungen verzeichneten pflanzliche Öle (68%) und Zucker (48%).
Wie andere Wirtschaftszweige auch leidet der Agrarsektor aufgrund der Pandemie beziehungsweise der kräftigen Erholung der Konjunktur unter einem Arbeitskräftemangel, der die Produktion beeinträchtigt und zur Angebotsverknappung beiträgt. So müssen etwa in Vietnam Armeeangehörige die Reisernte unterstützen. Aber auch oberhalb der Rohstoffebene, beispielsweise in Schlachtbetrieben, fehlen Arbeitskräfte. Hinzu kommen Engpässe und Verteuerungen im Transportwesen, zu denen auch die gestiegenen Energiekosten beitragen. In der Schifffahrt haben sich die Frachtraten in den zurückliegenden zwölf Monaten vermehrfacht, an Land fehlen Lkw-Fahrer, ein Problem, dass in Großbritannien durch den Brexit zusätzlich verschärft wird.
Schwere Klimaschäden
Die Schwierigkeiten, denen sich der Agrarsektor ausgesetzt sieht, und damit auch die Aussichten für die Preisentwicklung, sind allerdings nur begrenzt mit denen anderer Wirtschaftszweige vergleichbar. Grund ist die starke Abhängigkeit von den Witterungsverhältnissen. Rund um den Globus ist die Landwirtschaft in diesem Jahr in einem außergewöhnlichen Ausmaß extremen Wetterphänomenen ausgesetzt, die die Ernte beeinträchtigen und an den Vorräten zehren. Nur einige Beispiele: Extreme Hitze und Dürren haben in bedeutenden Anbaugebieten wie dem Westen Nordamerikas, Russland und Kasachstan die Getreideernte schwer beschädigt. In Brasilien wiederum leiden die Kaffee- und Zuckerernte unter Frostschäden. CNN zitierte kürzlich mit Robert Yawger, bei Mizuho Securities für Energiederivate zuständige Executive Director, einen seit 35 Jahren aktiven Veteranen der Rohstoffbranche, demzufolge es noch nie gegeben habe, dass eine Klimakatastrophe die Preise in allen Bereichen gleichzeitig hochtreibe.
Die Hausse der Nahrungsmittelrohstoffpreise macht sich zunehmend in den Portemonnaies der Verbraucher bemerkbar, zumal sie auch in der Weiterverarbeitung durchschlagen. So beklagte sich kürzlich Paolo Barilla, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Pasta-Weltmarktführers Barilla über die Weizenknappheit. „Die Weizenproduktion in diesem Jahr ist ungenügend, das kann eine sehr harte Zeit sein“, sagte er kürzlich laut Reuters. „Damit haben wir vor zwei oder drei Monaten nicht gerechnet.“ Der Klimawandel könnte der Branche in Zukunft zunehmend zusetzen, so Barilla.
Drohende Unruhen
Wesentlich kritischer als für die entwickelten Volkswirtschaften ist die Situation für die Schwellenländer, in denen die Verteuerung der Nahrungsmittelpreise zunehmend zum Politikum wird. Denn dort ist der Anteil der Nahrungsmittel an den Ausgaben der Haushalte deutlich höher als in den Industrienationen. Viele Menschen, die durch die Pandemie bereits in Not geraten sind und deren Mittel – wenn überhaupt – gerade noch für das Nötigste reichen, geraten noch stärker in Bedrängnis, was zu Unruhen führen kann. In unguter Erinnerung ist noch die „Tortilla-Krise“ in Mexiko des Jahres 2007, als stark steigende Preise für Grundnahrungsmittel für einen Aufstand sorgten, denen Unruhen in weiteren Schwellenländern folgten.
In Sri Lanka, ein Land, das Nettoimporteur von Nahrungsmitteln ist und das durch das Wegbrechen des für seine Wirtschaft sehr wichtigen Tourismus stark unter den Folgen der Pandemie leidet, hat die Regierung bereits mit Notfallmaßnahmen reagiert. Ein „Commissioner of essential services“ wurde mit der Ermächtigung ausgestattet, von Händlern und Einzelhandelsgeschäften gehaltene Nahrungsmittelvorräte zu beschlagnahmen und ihre Preise zu regulieren. Die Preis-Hausse wird in dem Inselstaat durch die Schwäche der Landeswährung zusätzlich befeuert.
In der Türkei ist die Jahresteuerung angetrieben von Rohstoff- und Nahrungsmittelpreise im August auf unerwartet hohe 19,25% gestiegen, was unmittelbare Konsequenzen für die Geldpolitik des Landes hat. Präsident Recep Tayyip Erdogan drängt die Notenbank, trotz der sehr hohen Inflation die Leitzinsen zu senken, und eine Jahresteuerung, die auf 20% zusteuert, lässt dazu eigentlich keinen Spielraum. Der Konflikt mit der Zentralbank, die mit einer Anhebung ihrer Prognose für die Verbraucherpreisinflation per Ende 2021 von 14,1% auf 16,2% reagierte, dürfte sich zusätzlich verschärfen.
Die Schlussfolgerungen für die großen Zentralbanken sind weniger klar. Es bestehen durchaus Aussichten, dass der Wegfall vorübergehender Corona-Effekte den Preisanstieg mindern wird. Zudem muss es nicht zwangsweise im nächsten Jahr eine massive Häufung extremer Wetterereignisse geben wie im laufenden. Letzteres entzieht sich jedoch jeder Prognose. Langfristig besteht aufgrund des Klimawandels, durch den es immer häufiger zu für den Agrarsektor negativen Wetterereignissen kommen wird, auf der Nahrungsmittelpreisseite ein nachhaltiges strukturelles und eben nicht vorübergehendes Inflationsrisiko.