Hoffnung auf Bremain kehrt zurück
Die Akteure auf den Finanzmärkten glauben wieder an den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union. Das nimmt Unsicherheit aus dem Geschäft und führt zu steigender Risikobereitschaft. Europaweit steigen die Aktienkurse, das Pfund Sterling legt eine Erholungsrally hin.Von Stefan Schaaf, FrankfurtDie Gegner und Befürworter einer britischen EU-Mitgliedschaft leisten sich in Meinungsumfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Doch die Akteure an den Finanzmärkten spielen zum Wochenauftakt den Bremain durch. Der so bezeichnete britische Verbleib in der EU ist das favorisierte Szenario vieler Finanzmarktakteure, so dass der sich abzeichnende Stimmungsumschwung bei der Abstimmung am kommenden Donnerstag sie risikofreudiger stimmte.Buchmacher sehen das Pro-EU-Lager inzwischen deutlich vorn. Die Wettbörse Betfair schätzt die Wahrscheinlichkeit eines britischen EU-Verbleibs jetzt auf 74,6 % nach 60 bis 67 % am Freitag. Der Buchmacher William Hill veranschlagt die Wahrscheinlichkeit eines britischen Verbleibs in der EU sogar auf 83 %.Allerdings signalisiert der Brexit-Tracker von Bloomberg, der Umfragen und Buchmacher berücksichtigt, noch immer eine höhere Brexit-Wahrscheinlichkeit als vor rund zwei Wochen. Für heute werden neue Umfragen erwartet, die den Markttrend bis zur Auszählung in der Nacht zu Freitag vorgeben dürften.Mit den jüngsten Umfrageergebnissen verstärkte sich die Stimmungsumkehr aus der Vorwoche. Bis Donnerstag lag das Momentum bei denjenigen, die sich für einen Austritt aus der EU starkmachen. Viele Investoren fürchten in diesem Fall eine Rezession in Großbritannien und möglicherweise ganz Europa, u.a. weil die hohe Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien Investitionen bremsen oder gar verhindern würde.Entsprechend reagiert auch der Sterling-Kurs sehr sensibel auf Nachrichten zur Brexit- bzw. Bremain-Stimmungslage. Nachdem die britische Währung kürzlich so tief wie auf dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise gefallen war, setzte sie schon Ende vergangener Woche zur deutlichen Erholung an. Diese setzte sich zum Wochenauftakt fort. Der Dollar-Pfund-Kurs, auch Cable genannt, stieg um 2,4 % auf 1,4707 Dollar und lag im späten Geschäft noch 2,2 % höher bei 1,4677 Dollar. Auch zum Euro erholte sich das Pfund, die Gemeinschaftswährung fiel um 2 % auf 77,02 Pence. Während im Fall des Brexit nach weitgehend einhelliger Marktmeinung das Pfund zum Dollar unter Druck geriete, ist die Euro-Reaktion umstritten. Das liegt daran, dass der Euro als Finanzierungswährung einerseits von der wachsenden Unsicherheit profitieren würde, andererseits aber ein Brexit auch Zweifel am Bestand der EU und damit der Eurozone auslösen könnte. Während der Markt etwas entspannter in die Woche gestartet ist, steht wohl der Höhepunkt der Brexit-Volatilität noch bevor, auch wegen des Kopf-an-Kopf-Rennens und der erwarteten langen Auszählung. Brexit hieße AbwertungDie BayernLB erwartet eine Euro-Abwertung zum Pfund im Fall des Bremain und eine Aufwertung beim Brexit. “Wenn sich zumindest eine knappe Mehrheit der Briten gegen den Brexit entscheidet, sollte das Pfund auf Basis unserer Modellschätzungen kurzfristig um 5 bis 7 % gegenüber dem Euro zulegen”, schreibt deren Experte Wolfgang Kiener. “Der Euro dürfte sich zum Dollar etwas erholen, wobei das Ausmaß der Erholung davon abhängen wird, ob der Euro in den kommenden Tagen durch die Brexit-Sorgen – und die damit verbundene Fokussierung auf die Fragilität von EU und Euroraum – noch unter Druck gerät.” Für den Fall des Brexit sagt Kiener dagegen einen Kurssturz des Pfund von 10 bis 15 % voraus.Unterdessen führte die risikofreudigere Stimmung vieler Investoren zu einem Kurssprung an den europäischen Aktienmärkten. Der europabreite Stoxx 600 legte 3,7 % auf 338 Stellen zu, während der Eurozonen-Leitindex Euro Stoxx 50 um 3,4 % auf 2 945 Punkte stieg. Der Dax gewann 3,4 % auf 9 962 Punkte, während der FTSE 100 in London 3,1 % höher auf 6 205 aus dem Handel ging. Damit holten die Aktienmärkte allerdings nur einen Teil ihrer jüngsten Verluste auf. Seit Monatsbeginn liegt der Stoxx 600 noch immer knapp 3 % im Minus. Von der Stimmungsaufhellung profitierte auch der Ölpreis. Die Notierung für Brent-Öl sprang zeitweilig wieder über die 50-Dollar-Marke. Der Risikoaufschlag zehnjähriger britischer Staatsanleihen (Gilts) zu Bundesanleihen fiel um 6 auf 118,6 Basispunkte.