LEITARTIKEL

Implosion

Kurseinbußen an den Aktienmärkten wie zuletzt im Jahr 2008, Verzinsungen von US-Staatsanleihen im freien Fall, ein Tageseinbruch der Ölpreise um in der Spitze mehr als 30 %: An den Finanz- und Rohstoffmärkten sind derzeit Extreme zu erleben, die...

Implosion

Kurseinbußen an den Aktienmärkten wie zuletzt im Jahr 2008, Verzinsungen von US-Staatsanleihen im freien Fall, ein Tageseinbruch der Ölpreise um in der Spitze mehr als 30 %: An den Finanz- und Rohstoffmärkten sind derzeit Extreme zu erleben, die historisch einzigartig sind. Nachdem mit dem Virusausbruch in der Lombardei Europa sein Wuhan erhielt und endgültig klar wurde, dass die Pandemie die ganze Welt erfasst, geht es drunter und drüber. In nur drei Wochen hat der Dax gegenüber seinem Rekordhoch von rund 13 800 Punkten in der Spitze nahezu 3 400 Punkte bzw. 24,4 % eingebüßt und ist die Rendite des größten Wertpapiers der Welt, der zehnjährigen Treasury, um bis zu 115 Stellen auf 0,32 % gefallen.Mit Blick auf die Aktienmärkte wäre es aber verkürzt, die implosionsartige Kursentwicklung ausschließlich dem Virus zuzuschreiben. Denn es gab durchaus Warnsignale für eine Korrektur. Im Herbst wurden die Investoren von einem Euphorieschub erfasst. Die Erwartungen über eine Erholung des globalen Wirtschafts- und Gewinnwachstums schossen in den Himmel, wie die Fondsmanagerumfrage der Bank of America zeigte. Viel Geld wurde in die Aktienmärkte umgeschichtet, so dass die Bewertungen kritische Bereiche erreichten. Und dies wurde mantramäßig damit gerechtfertigt, dass sich die Zinsen auf extrem niedrigem Niveau befanden und keine Alternative zu Dividendentiteln bestehe. Es hätte auch gut gehen können. Jedoch war dies ein Umfeld, das keine Enttäuschungen beziehungsweise keinen Spielraum für Zweifel an dem positiven Konjunkturszenario und erst recht für ein unerwartetes negatives Ereignis – einen sogenannten Schwarzen Schwan – zuließ.Allerdings wirken die Turbulenzen und die Panik der zurückliegenden Tage mittlerweile übertriebener als der Optimismus des vergangenen Herbstes. Die führenden Volatilitätsindizes dies- und jenseits des Atlantiks sind auf Höhen hochgeschossen, die zuletzt nach der Finanzkernschmelze in der Folge des Zusammenbruchs von Lehman Brothers zu sehen waren. Damit wird nun wie damals ein sehr schwarzes Szenario befürchtet. Aber ist die aktuelle Lage tatsächlich so schlimm wie damals? Lehman war anders als der Virus zwar nicht für Menschen tödlich. Aber nach allem, was derzeit erfassbar ist, sind die von der Pandemie ausgehenden Risiken für die Weltwirtschaft und das Finanzsystem wahrscheinlich bei weitem nicht so bedrohlich. Die Fixierung auf die Flut negativer Meldungen, die die Pandemie derzeit produziert, lässt viele Marktteilnehmer annehmen, dass das Glas völlig leer ist. Es mag zwar nicht halb voll sein, aber gibt doch auch Fakten, die beruhigend wirken müssten. Die Anleiheverzinsungen sind – wieder einmal – auf Tiefen gefallen, die die Welt bislang noch nie gesehen hat. Das verbessert die Finanzierungskonditionen sowohl für die öffentliche Hand als auch für die Unternehmen und verstärkt den relativen Vorteil von Dividendentiteln.Ähnliches ist über die Ölpreise zu sagen. Ihr Einsturz mag erschreckend sein und vom Öl lebende Volkswirtschaften und Unternehmen vor erhebliche Schwierigkeiten stellen. Auch führt der Ölpreisverfall zu Problemen bei hoch verschuldeten US-Frackingfirmen und dadurch auch am Hochzinsanleihemarkt. Für Konsumenten wirkt das jedoch wie eine Steuersenkung, bei Unternehmen sinken Kosten, und Volkswirtschaften, die Öl importieren müssen, werden in der Leistungsbilanz entlastet. Hinzu kommen die umfangreichen, konzertierten geldpolitischen und fiskalischen Gegenmaßnahmen.Ausgestanden ist die Coronakrise damit jedoch noch nicht, so dass es wahrscheinlich auch an den Finanzmärkten vorerst unruhig bleiben wird und die Zeit für eine aggressive Positionierung am Aktienmarkt noch nicht gekommen ist. Die geldpolitischen und fiskalischen Maßnahmen können helfen, die ökonomischen Folgen der Pandemie einzudämmen. Gegen die Ursache können sie nichts ausrichten. Zudem wirken die gefallenen Ölpreise nicht kurz-, sondern erst mittelfristig und müssen dazu auch nachhaltig Bestand haben. Während China den Höhepunkt der Pandemie und der damit verbundenen behördlichen Einschränkungen und Produktionseinbußen hinter sich zu haben scheint, steht er Europa und den USA noch bevor. Vor allem auf Letztere muss der Blick gerichtet werden. Sollte es dort zu Zuständen wie in Wuhan und Italien kommen, könnte dies den amerikanischen Konsum hart treffen, der die Haupttriebfeder der US-Wirtschaft ist.——Von Christopher KalbhennWie nach dem Lehman-Kollaps wird an den Finanzmärkten unter dem Eindruck der Pandemie ein sehr schwarzes Szenario befürchtet.——