IM INTERVIEW: CHRISTOPH RIEGER, COMMERZBANK

"In den USA ist man sehr nah dran an Helikoptergeld"

Haushaltsdefizite im Euroraum steigen 2020 um geschätzte 550 Mrd. Euro - EZB-Käufe verbessern Bondliquidität - Renditen bleiben lange auf niedrigem Niveau

"In den USA ist man sehr nah dran an Helikoptergeld"

Christoph Rieger, Leiter des Zinsresearch der Commerzbank, sieht die USA durch die Coronakrise nah am Helikoptergeld. In der Eurozone erwartet er in diesem Jahr deutlich steigende Haushaltsdefizite. Die Renditen sicherer Bundesanleihen erwartet Rieger aufgrund der Krise nun noch länger auf niedrigen Niveaus. Herr Rieger, die Coronakrise hat Wirtschaft und Finanzmärkte in Europa, aber auch andernorts mit voller Wucht erfasst. Können Sie in dieser Situation ein positives Szenario ableiten?So hoffnungslos die Situation momentan auch aussehen mag, das optimistische Szenario ist immer noch möglich: Die Neuinfektionen werden nach den rigorosen Eindämmungsmaßnahmen abklingen, so dass die Wirtschaftsaktivität wieder anziehen kann und die Produktionsverluste wettgemacht werden. Neue Behandlungsmethoden und ein Impfstoff verhindern eine zweite Welle. Unterstützt durch die beispiellosen monetären und fiskalpolitischen Impulse steigen Aktien wieder auf Allzeithochs, die Renditekurven versteilern sich vom langen Ende, während die Realrenditen tief negativ bleiben. Und wie sieht ein weniger rosiges Szenario aus?Dem Staat bleibt nichts anderes übrig, als die Einkommensverluste des privaten Sektors auszugleichen. Die Staatsverschuldung steigt dadurch immens an, und den Zentralbanken bleibt nichts anderes übrig, als die massiven Staatsausgaben durch steigende Anleihekäufe zu monetarisieren. Am Ende wird die Aktivseite der Zentralbankbilanz aus riesigen Mengen an niedrig verzinslichen Staatsschulden bestehen, was Zinserhöhungen für die kommenden Jahrzehnte verhindert. Die inländische Staatsverschuldung kann selbst auf sehr hohem Niveau tragbar bleiben, wie Japan gezeigt hat. Der Schuldenberg in allen Sektoren und die groß angelegte Verstaatlichung der Wirtschaft würden jedoch langfristig Investitionen hemmen und die Produktivität reduzieren, was zu einer säkularen Stagnation oder irgendwann zur Stagflation führen könnte. Kann man sich ein noch schwärzeres Bild vorstellen?Es gibt kaum Alternativen zu den noch nie da gewesenen Maßnahmen, die wir derzeit erleben. Unternehmen in größerem Umfang scheitern zu lassen, würde zu einer tiefen, lang anhaltenden Rezession oder Depression führen. Wir wollen nicht über die politischen Implikationen nachdenken, die sich aus diesem Szenario ergeben könnten. Die Fed hat als Reaktion auf Corona die Zinsen gesenkt und die Anleihekäufe reaktiviert. Wie beurteilen Sie die Schritte der Fed?Schon vor der Krise ist deutlich geworden, dass die Fed asymmetrisch auf Risiken reagieren würde. Die jetzigen Schritte sind zwar notwendig. Wichtig wird jedoch, dass die enge Verknüpfung zwischen Finanzministerium und Zentralbank nach der Krise wieder aufgegeben wird. Wird die Fed noch nachlegen?Es ist schwer vorzustellen, was nach Nullzinspolitik, unbegrenztem QE und verschiedenartigen Kreditfazilitäten noch folgen kann. Es ist allerdings damit zu rechnen, dass die Kreditfazilitäten deutlich ausgeweitet werden, sobald das US-Finanzministerium die Absicherung von 454 Mrd. Dollar bereitstellt. Diese Einlage kann dann über die Fed-Bilanz um das Zehnfache gehebelt werden. Was könnte das US-Finanzministerium jetzt noch tun, um den Unternehmen und privaten Haushalten zu helfen?In den USA ist man momentan schon sehr nah dran an Helikoptergeld, wenn die Regierung Schecks verschickt und die Fed die dadurch entstehenden Staatsschulden aufkauft. Sobald die akute Krise etwas nachlässt, ist damit zu rechnen, dass die Regierung mit einem Konjunkturprogramm nachlegt. Wo sehen Sie vor diesem Hintergrund die zehnjährigen US-Bond-renditen per Jahresmitte und zum Jahresende?Zur Jahresmitte prognostizieren wir 0,75 %, am Jahresende 0,9 %, d. h. nur leicht höher als aktuell. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat das Pandemic Emergency Purchase Programme – kurz PEPP – ins Leben gerufen. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?Er war notwendig geworden, nachdem die Märkte immer nervöser wurden angesichts einer nicht ganz glücklichen Kommunikation der neuen EZB-Chefin Lagarde am Anfang der Krise und keiner überzeugenden Antwort der Politik, wie die milliardenschweren Rettungspakete in den Problemländern finanziert werden können. Das Außerkraftsetzen sämtlicher Einschränkungen beim PEPP und die beschränkte Transparenz halte ich jedoch für problematisch. Eine sauberere Lösung wäre es gewesen, die OMT-Käufe zu aktivieren, wenn Staaten Gefahr laufen, den Marktzugang zu verlieren. Wird die EZB die Maßnahmen noch ausweiten (müssen)?Das hängt zum einen natürlich vom Verlauf der Krise und der Dauer des Stillstands ab. Darüber hinaus aber auch vom Vertrauen des Marktes in die Rettungsinstrumente und wie die Ratingagenturen mit der Situation umgehen. Die Staaten reagieren mit gewaltigen Ausgabensteigerungen, um die Wirtschaft zu stützen. Wie sieht Ihr aggregiertes Bild für die Eurozone aus?Im Euroraum schätzen unsere Volkswirte, dass die höheren Staatsausgaben und Einnahmeausfälle die Haushaltsdefizite dieses Jahr um 550 Mrd. Euro erhöhen werden. Hinzu kommen die Garantien, die zwar zunächst nicht finanzierungsrelevant sind, aber die Staatsschulden erhöhen werden. Und womit rechnen Sie in dieser Hinsicht in den USA?In den USA sind die Dimensionen noch größer. Unsere Volkswirte gehen davon aus, dass das Budgetdefizit um bis zu 1 400 Mrd. Dollar bis auf 2 500 Mrd. Dollar ansteigen könnte. Die Deutsche Finanzagentur steuert auf den historisch größten Emissionsumfang in diesem Jahr zu, und zwar rund 335 Mrd. Euro. Ein großer Teil kommt über den Geldmarkt. Wie schätzen Sie das ein?Das ist die richtige Strategie, wenn kurzfristig eine signifikant höhere Mittelaufnahme bewältigt werden muss. Der Spielraum dazu ist vorhanden, weil man die Emission von Geldmarktpapieren nach der Finanzkrise deutlich runtergefahren hat. Ein weiterer entscheidender Vorteil für Finanzierung am kurzen Ende ist, dass man so die riesigen Überschussreserven anzapfen kann, die Banken bei der EZB halten. Gegenwärtig halten die Banken knapp 1 Bill. Euro, die mit dem Strafzins von minus 0,5 % konfrontiert sind, und wir rechnen damit, dass dieser Betrag bis zum Jahresende auf knapp 2 Bill. Euro ansteigen wird. Die Bundrendite ist zeitweise im negativen Bereich etwas deutlicher angestiegen, weil Investoren die Kassenhaltung hochgefahren haben. Ist das nun gebannt?Der Bedarf an Kassenhaltung bleibt weiter hoch. Die Abflüsse haben sich aber etwas gelegt, und die EZB-Käufe haben die Liquidität in anderen Segmenten des Bondmarktes etwas verbessert. Daher denke ich nicht, dass Investoren jetzt noch gezwungen sind, Bundesanleihen zu Kursen zu verkaufen, die teilweise niedriger sind als vor der Krise. Wo sehen Sie in dieser Gemengelage die zehnjährige Bundrendite zur Jahresmitte und zum Ende dieses Jahres?Wir rechnen zur Jahresmitte mit minus 0,6 % und zum Jahresende mit minus 0,5 %. Welche Erwartung haben Sie für die Spreads in der Eurozonenperipherie?Die strukturellen Probleme in Italien werden durch die Krise verschärft. Die gewaltigen EZB-Käufe können das zwar kaschieren, aber nicht beseitigen. Da die Masse der enormen Schulden, die nun entstehen, in nationaler Verantwortung bleiben, dürfte die unvermeidliche deutliche Verschlechterung der Fiskalzahlen längerfristig eine höhere Risikoprämie erfordern. Rechnen Sie mit Corona-Bonds und damit mit einem Einstieg in die Vergemeinschaftung der Schulden in der Eurozone?Die Politiker in den nördlichen Ländern wollen das aus gutem Grund um jeden Preis vermeiden. Wenn sich am Ende die Frage stellt, ob Italien pleitegeht und daran der Euro zerbricht, könnte diese Haltung jedoch bröckeln. Das dürfte allerdings nicht bei zehnjährigen Renditen in Italien bei 1,5 % passieren. Sie propagieren seit Jahren ein intaktes Niedrigrenditeumfeld. Hat dieses Renditeumfeld weiter Bestand?Absolut. Vor allem die Realrenditen dürften durch die Krise noch viel länger auf einem sehr niedrigen bzw. negativen Niveau verharren. Das Interview führte Kai Johannsen.