InterviewMarc Decker

„Wir haben einen massiven Bedarf an Strom“

Seit Ende Oktober befinden sich die Aktienmärkte im Rallymodus und notieren aktuell nur wenig unter ihren Höchstständen. Aktienstratege Marc Decker von der Merck-Finck-Mutter Quintet glaubt, dass die Märkte durchaus noch weiterlaufen können. Neben KI sieht er zwei weitere spannende Bereiche.

„Wir haben einen massiven Bedarf an Strom“

Im Interview: Marc Decker

„Wir haben einen massiven Bedarf an Strom“

Aktienstratege von Quintet sieht KI als Zäsur – Elderly Care wird ein Thema – Versorger dürften künftig stärker gefragt sein – Zweifel an Verbrennerverbot

Seit Ende Oktober befinden sich die Aktienmärkte im Rallymodus und notieren aktuell nur wenig unter ihren Höchstständen. Aktienstratege Marc Decker von der Merck-Finck-Mutter Quintet glaubt, dass die Märkte durchaus noch weiterlaufen können. Neben KI sieht er zwei weitere spannende Bereiche.

Herr Decker, wir sehen momentan eine ungewöhnliche Konstellation: Die EZB hat gerade erstmals die Leitzinsen gesenkt, die Fed will dies vorerst nicht tun. Wie dürfte sich das auf die Aktienmärkte auswirken?

Es ist die erste Reduktion der EZB beim Leitzins seit fünf Jahren. Und der Fakt, dass die EZB zum ersten Mal seit ihrem Bestehen einen Zinssenkungsschritt gemacht hat, bevor die Fed ihn gemacht hat, ist schon bemerkenswert. Aufgrund der Datenlage dies- und jenseits des Atlantiks ist das aber gut nachvollziehbar. Klar ist damit, dass wir den Zinserhöhungszyklus verlassen haben, und wir gehen auch nicht davon aus, dass sich das nochmal umkehren wird. Wir erwarten vielmehr, dass es die EZB nicht bei einem Zinsschritt in diesem Jahr belässt.

Wie wird die EZB nun weiter vorgehen?

Das Interessante ist, dass sich die kommunikative Herangehensweise der EZB verändert hat. Man ist nicht sklavisch auf einem bestimmten Pfad, sondern will nun datenabhängig vorgehen. Das ist unserer Meinung nach die absolut richtige Vorgehensweise, dass man schaut, was passiert draußen, was passiert mit der Inflation, was passiert mit den Preisen generell, was passiert mit den Rohstoffmärkten, was passiert auch mit den Wechselkursen. Das macht übrigens die Fed nicht anders.

Wann erwarten Sie die nächste Senkung?

Die Lage in Europa ist nicht so schlimm, wie man noch vor ein paar Monaten befürchtet hat. Wir gehen von einem Soft Landing in Europa aus. Das würde der EZB einen Pfad für quartalsweise Zinssenkungen öffnen. Wir haben zuletzt zwar gesehen, dass die Inflationsdaten weniger stark zurückgekommen sind, als wir es gedacht haben. Ich finde es trotzdem nicht zu früh, dass die EZB jetzt runtergegangen ist.

An den Märkten ist die erste Senkung nicht gefeiert worden, sie war mehr oder weniger eingepreist. Und zurückhaltende Aussagen bezüglich weiterer Zinssenkungen haben den Dax eher nach unten als nach oben getrieben.

Ich glaube, selten war ein Zinsschritt schon so stark eingepreist wie dieser. Deswegen gab es jetzt auch keine großen Reaktionen.

Rechnen Sie damit, dass die Fed im Herbst nachziehen wird, oder werden sich die US-Währungshüter angesichts der hartnäckigen Inflation und der näher rückenden Präsidentschaftswahlen weiter zurückhalten?

Die jüngsten Arbeitsmarktzahlen waren schon enorm stark – erwartet wurden 180.000 und gekommen sind 272.000 neu geschaffene Stellen. Der Arbeitsmarkt in Amerika ist also recht robust. Auf der anderen Seite haben wir zuletzt schlechtere makroökonomische Daten gesehen. Die Fed muss sich nun anschauen, wie sich das Gesamtbild darstellt. Und dann kommen ja noch ein paar extra Faktoren hinzu, die man auch nicht hinten runterfallen lassen darf. Wir haben ein Wahljahr, und in einem Wahljahr ist es immer schwierig für den Zentralbankchef, Zinsveränderungen vorzunehmen, weil das als wahlkampfbeeinflussend gewertet werden könnte. Darum muss die Fed schon sehr aufpassen, was sie macht. Ein erster Zinsschritt im September wird durch die aktuellen Arbeitsmarktdaten gerade einen Tick weit ausgepreist. Aber die Wahlen sind im November, die Fed hätte also etwa die Möglichkeit, im Dezember zu agieren.

Als Profiteure von sinkenden Leitzinsen gelten gemeinhin Small und Mid Caps, die zuletzt deutlich hinter den Blue Chips zurückblieben. Könnte sich das jetzt – zumindest in Europa – ändern?

Historisch und auf lange Sicht gesehen entwickelten sich die Kurse von Small und Mid Caps in der Regel besser als die von Large Caps. Das war in den letzten Jahren anders. Die Glorreichen Sieben haben die Aktienmärkte massiv raufgezogen. Auch einige Healthcare-Unternehmen mit ihren Abnehmspritzen. Gesundheit ist aktuell ein massiver Megatrend. Und natürlich künstliche Intelligenz. Und da ist ein Unternehmen wie Nvidia definitiv ganz zuvorderst zu nennen. Die Kleinen sind bei diesen Themen etwas unter dem Radar geblieben.

Und die könnten jetzt aufholen?

Die Zinssensitivität von kleineren Unternehmen ist in der Regel deutlich höher. Für ihre Finanzierung müssen sie eher Bankdarlehen aufnehmen und können sich weniger am Kapitalmarkt direkt finanzieren. Sie haben oft nicht den Kapitalmarktzugang, wie ihn große Unternehmen haben. Und sie werden von den Anlegern oft als nicht so sicher wahrgenommen wie große Unternehmen mit ihren bewährten Geschäftsmodellen. Wenn nun das Zinsniveau nach unten geht, hat das gerade bei Small Caps mit ihren tendenziell höheren Finanzierungskosten einen direkten positiven Einfluss auf die Gewinn-und-Verlust-Rechnung. Wir müssen nun schauen, ob das ein One Shot von der EZB war oder ob es mit Zinssenkungen weitergeht. Aber schon dieser kleine Zinsschritt kann als Performance-Treiber für kleinere und mittlere Unternehmen wirken, einfach weil durch die sinkenden Refinanzierungskosten die Ertragsseite ihrer Bilanzen gestärkt wird.

Auch Schwellenländer profitieren häufig von sinkenden Zinsen. Gleichwohl haben zuletzt Wahlen in Indien, Mexiko und Südafrika eher für Unsicherheit gesorgt. Gibt es hier Märkte, bei denen Sie Aufholpotenzial sehen?

Wir sind bei unserer Asset Allocation definitiv USA-lastig. Aufholpotenzial sehen wir tatsächlich in Europa. Wie gerade besprochen, können Small und Mid Caps hier sehr spannend sein. Wenn man sich die Emerging Markets anschaut, dann halten wir bestimmte asiatische Schwellenländer ex China durchaus für interessant. Und je nachdem, welches Thema man spielt, kann auch ein Rohstoffland wie Australien nicht unspannend sein. Ein langfristiger Investor muss auch in solchen Ländern allokiert sein.

Die Aktienmärkte in der westlichen Welt sind seit bald acht Monaten auf Rekordkurs mit beträchtlichen Gewinnen. Kann das noch lange so weitergehen, oder ist in näherer Zukunft mit einer größeren Korrektur zu rechnen?

Was wir sehen, ist, dass das Sentiment für Aktien sehr positiv ist. Das war ein sich selbst verstärkender Aufschwung. Mehrmals wurden Marktteilnehmer, die versucht haben, auf die Shortseite zu spekulieren, eines Besseren belehrt. Schon nach der Jahresendrally haben viele gedacht: Jetzt müssen die Märkte auch mal wieder runterkommen. Aber gleich danach ging es direkt weiter. Der Schmerz, wenn man dann nicht dabei ist, wird natürlich immer größer. Und irgendwann fällt man dann um und geht in den Markt rein, weil man es nicht mehr aushält. Ich glaube, so ging es ganz vielen Investoren. Das meine ich mit dem selbstnährenden Aufschwung. Hinzu kommt der zugrundeliegende Megatrend KI.

Und das geht so weiter?

Nvidia hat in den ganzen letzten Quartalen sehr herausfordernde Schätzungen noch mal übertroffen und noch mal übertroffen. Man fragt sich natürlich schon: Wie lange kann das noch weitergehen? Aber künstliche Intelligenz steht wirklich erst am Anfang. Das ist eine Zäsur, und dieser Megatrend wird in fast alle Lebensbereiche eindringen. Deshalb ist weiter mit massiver Unterstützung der irgendwie davon profitierenden Unternehmen zu rechnen. Nichtsdestotrotz gibt es irgendwann natürlich auch Korrekturen, es geht ja nie immer nur nach oben. Die Bewertungsniveaus sind mittlerweile schon sportlich, aber das konnte man zum Jahreswechsel auch schon sagen, und trotzdem liefen die Märkte einfach weiter.

Sie bleiben also investiert?

Wir wollen weiter auf den interessanten und aussichtsreichen IT-Werten bleiben, auch wenn wir da ein paar Reduktionen durchgeführt haben. Auf der anderen Seite haben wir einige Sektoren, die nicht ganz so gut performt haben, erhöht. Wir schauen auf die Bilanzqualität, die Margenstärke, ein solides Gewinnwachstum, und ich glaube, dass wir mit diesem Investmentansatz die nächsten Monate sehr, sehr gut fahren werden.

Was könnte denn neben KI noch in der Lage sein, die Aktienmärkte anzutreiben?

Wie schon erwähnt, ist Healthcare ein großes Thema. Abgesehen von der Abnehmspritze geht es da natürlich auch um Elderly Care, also um die Versorgung alter Menschen, um Langlebigkeit. Das ist ein langfristiger Megatrend.

Kurzfristig können auch Banken oder Finanzwerte sehr spannend sein, auch wenn das Zinsniveau jetzt gegebenenfalls einen Tick runtergehen sollte. Da haben wir zwar schon eine sehr gute Rally gesehen. Aber nach der Finanzkrise haben die Banken ihre Bilanzen über eine Dekade lang in Ordnung gebracht und sind jetzt in einen Pfad eingebogen, wo sie quasi die Ernte einfahren können. Die Risikokosten sind relativ überschaubar, die Kreditausfallraten niedrig. So können die Ertragschancen aus dem Wealth Management oder dem wieder anziehenden M&A-Geschäft ihre Wirkung entfalten.

Noch eine Empfehlung?

Utilities, also Versorger, sind auch ein spannender Sektor. Denn auch hier haben wir einen Megatrend: den massiven Bedarf an Strom – mit der Elektrifizierung der Fahrzeugflotten einerseits, aber auch mit KI und den Data-Centern andererseits. Das heißt, Stromproduzenten werden meiner Meinung nach gesucht sein. Da muss man aber selektiv schauen. Gerade im Renewable-Energy-Bereich gibt es auch die einen oder anderen Player, die noch mit idiosynkratischen Problemen kämpfen. Trotzdem ist der Utility-Bereich spannend, auch mit Wasserwirtschaft, Abfallwirtschaft und all diesen Themen. Ich glaube, da sollte man nicht unterinvestiert sein.

Bereits bei unserem letzten Gespräch im Dezember haben Sie Zweifel geäußert, ob das von der EU beschlossene Verbrennerverbot tatsächlich so kommen wird. Damals waren Sie gefühlt eine von ganz wenigen Stimmen. Inzwischen wird das Thema in der Politik wieder kontrovers diskutiert.

Freut mich, dass Sie sich daran erinnern! Ich habe mich damals in der Tat etwas allein gefühlt, muss ich zugeben. Wenn man aber die Schadstoffbilanz von Elektrofahrzeugen mit klassischen Verbrennerfahrzeugen vergleicht, dann sieht sie für E-Autos nur dann besser aus, wenn sie mit grünem Strom fahren. Schließlich müssen wir den gesamten Lebenszyklus nehmen, von der Rohstoffgenerierung über Herstellung, über Nutzung, bis zu Recycling und Entsorgung. Und wenn der Strom aus Gas- oder Kohlekraftwerken kommt, verlagere ich eigentlich nur den Emissionsausstoß aus den Städten raus.

Wie sieht Ihre Alternative aus?

Ich glaube, dass Technologieoffenheit der bessere Weg ist und dass man ohne Verbote auskommen und die ganze Thematik über Förderungen lösen sollte. So, wie es jetzt läuft, glaube ich nicht, dass das Ziel, ab 2035 Verbrennerautos gar nicht mehr zuzulassen, überhaupt zu schaffen ist. Es fehlt ja auch die entsprechende Infrastruktur. Und da rede ich nicht nur von den Ladesäulen, sondern auch von den Energienetzen. Wie ist deren Tragfähigkeit? Die müssen modernisiert werden, es müssen massive Investitionen da reingehen. Hinzu kommt die Rohstoffversorgung. Schon der Abbau von Silizium, das notwendig ist, um die Fahrzeugflotte auf die Straße zu bringen, könnte das Ganze ausbremsen oder zumindest deutlich verlangsamen. Daher glaube ich, dass dieses Verbrenner-Aus zumindest auf der Zeitschiene nach hinten geschoben wird.

An ein Aus für das Verbrenner-Aus glauben Sie aber nicht?

Eine komplette Rolle rückwärts wird es wohl nicht geben, weil schon so viel Einsatz von den europäischen und den deutschen Automobilherstellern in diese Technologiewende gesteckt wurde. Das ist genauso, als wenn man jetzt Atomstrom wieder reaktivieren würde. Aber ich glaube, man muss einfach offen bleiben. Beide Antriebsarten haben ihre Existenzberechtigung. Es wird immer auch Gründe geben, warum man auch Verbrennerautos braucht. Militärfahrzeuge etwa, wenn zugegebenermaßen auch ein zu vernachlässigender Anteil. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die alle mit E-Autos oder E-Lkws durch die Gegend fahren.

Was bedeutet das für die deutschen Autobauer?

Die heimischen Automobilhersteller haben einerseits schon noch Marktvorteile, aber sie müssen andererseits wirklich schauen, dass sie jetzt in die Gänge kommen. Dass sie von der Modellvielfalt und von der Erschwinglichkeit her was machen. Und da sind wir wieder bei der Förderthematik. Sonst wird der Markt überschwemmt von asiatischen Produkten. In den letzten Wochen und Monaten haben wir gesehen, dass die Kurse von deutschen Automobilherstellern eher den Rückwärtsgang eingelegt haben, nachdem sie zuvor mehrere Quartale nach oben gegangen sind und immer wieder bessere Ergebnisse zeigen konnten, als man vielleicht erwartet hätte. Ich glaube, es liegt noch viel Arbeit vor denen. Mittlerweile sehe ich fast mehr Gefahren aus China als von unseren großen amerikanischen Herausforderern.

Zur Person: Marc Decker ist Leiter Aktien von Quintet, der Muttergesellschaft der Münchener Privatbank Merck Finck. Decker hat eine langjährige Erfahrung im Portfoliomanagement, unter anderem bei der DWS sowie bei Meag, der Anlagegesellschaft des Munich-Re-Konzerns. Zudem war er als Portfoliomanager und Vorstand der Fondsboutique Skalis auch unternehmerisch tätig. Decker ist Diplom-Betriebswirt und CAIA-Charterholder.

Das Interview führte Tobias Möllers. Das Interview führte Tobias Möllers.