TECHNISCHE ANALYSE

Kapitalerhalt in nächsten Monaten vorrangig

Von Jörg Scherer *) Börsen-Zeitung, 29.5.2019 Der gute und in seiner Dynamik viele Marktteilnehmer auf dem falschen Fuß erwischende Jahresauftakt ist zuletzt ins Stocken geraten. Auf der fundamentalen Seite dominiert gegenwärtig der Handelsstreit...

Kapitalerhalt in nächsten Monaten vorrangig

Von Jörg Scherer *)Der gute und in seiner Dynamik viele Marktteilnehmer auf dem falschen Fuß erwischende Jahresauftakt ist zuletzt ins Stocken geraten. Auf der fundamentalen Seite dominiert gegenwärtig der Handelsstreit zwischen den USA und China die Schlagzeilen. Deshalb wollen wir explizit einen Blick durch die charttechnische Brille auf die amerikanischen und chinesischen Standardwerte werfen. Ohne diese beiden Zugpferde dürfte die Luft auch für den Dax dünn werden.Die Hochs von Januar bzw. Oktober 2018 sowie das bisherige Jahreshoch zwischen 26 617 und 26 952 Punkten bilden aktuell den “ultimativen Deckel” für den Dow Jones. Ein Sprung über diese Hürden, welcher zweifelsfrei für ein erneutes prozyklisches Investmentkaufsignal sorgen würde, stellt derzeit aber kein leichtes Unterfangen dar. Zunächst fungiert die saisonal schwache Phase von Mai bis Ende September als Bremsklotz. Darüber hinaus erschwert die derzeitige Indikatorenkonstellation einen Ausbruch auf der Oberseite. Während der Dow Jones sein bisheriges Jahreshoch (26 696 Punkte) Ende April ausprägte, bestätigten weder der RSI noch der MACD dieses Hoch, wodurch eine klassische negative Divergenz entsteht. Die Schere öffnet sich aktuell auch im Vergleich zum Transport-Index. Im Gegensatz zu dem erwähnten Dreifach-Top beim Dow notieren die Transporttitel knapp 1 500 Punkte unterhalb ihres Rekordhochs von Mitte September 2018. Gleichzeitig musste der Transport-Index jüngst ein neues Verlaufstief hinnehmen. Da die Transportunternehmen bereits oftmals ihren Vorlaufcharakter unter Beweis gestellt haben, entsteht gemäß der Dow-Theorie sogar ein doppeltes Warnsignal. Marktbreite mit MakelnRegelmäßig untersuchen wir die grundsätzliche Marktverfassung in Deutschland, Europa und den USA anhand der objektiven Kriterien Momentum, 200-Tages-Linie und der relativen Stärke (Levy). In den USA befinden sich – gemessen am Momentum der letzten 50 Tage – 56 % aller S&P-500-Titel in einem Aufwärtstrend, während die längerfristigen Kriterien 200-Tage-Linie und relative Stärke nach Levy bei 59 % bzw. bei 63 % der US-Standardwerte freundlich zu interpretieren sind. Diese Resultate haben allerdings einen Makel: Im Vergleich zu unserer Auswertung von Ende Februar stellen diese Zahlen eine Verschlechterung dar, d.h. der Rekord vom 1. Mai bei 2 954 Punkten im S&P 500 wurde bei abnehmender Marktbreite realisiert. Mit anderen Worten: Der jüngste Rekordstand wurde von einer geringeren Anzahl an Einzeltiteln getragen. Erschwerend kommt die saisonal herausfordernde Phase der nächsten Monate hinzu, in deren Verlauf sich die Marktbreite eher weiter verschlechtern dürfte.In der Konsequenz müssen wir deshalb zwei absolute Schlüsselunterstützungen hervorheben: Beim Dow Jones entstehen diese aus der 200-Tage-Linie und dem 50-Wochen-Pendant (aktuell bei 25 434 /25 346) sowie den Verlaufstiefs vom Mai bzw. März bei 25 223/25 208 Punkten. Die horizontalen Haltemarken bei 2 800 bilden im Zusammenspiel mit der Glättungslinie der letzten 200 Tage (aktuell bei 2 777 Punkten) indes beim S&P 500 den entscheidenden Rückzugsbereich. Ein Bruch der jeweiligen Kumulationsunterstützungen dürfte die amerikanischen Standardwerte wieder in charttechnisch schweres Fahrwasser manövrieren. Herausfordernde PhaseWir sind der tiefen Überzeugung, dass der Faktor “Saisonalität” eine noch nicht abschließend erforschte Renditequelle darstellt. Deshalb möchten wir an dieser Stelle vor allem die saisonalen Rahmenbedingungen beim Shanghai Composite in den Vordergrund rücken. Hierfür haben wir die Daten der chinesischen Standardwerte seit dem 1. Januar 2000 herangezogen. Gemessen am durchschnittlichen Verlauf in diesem Jahrtausend stechen zwei saisonal günstige Phasen hervor: Zum einen der Zeitraum von Anfang Februar bis Ende Mai (+8,3 %), zum anderen die klassische Jahresend-Rally von Ende September bis zum Jahresultimo (+6,5 %). In der Summe schlagen diese beiden Phasen sogar den durchschnittlichen Kurszuwachs des Gesamtjahres (+11 %). Im Zeitraum Juni bis November ist indes nichts zu holen. Es dauert – gemessen am durchschnittlichen Verlauf seit 2000 – bis in den Dezember, bis der Shanghai Composite seinen saisonalen Hochstand vom Monatsultimo Mai/Juni überwinden kann. Auch in China steht Anlegern nun also eine saisonal herausfordernde Phase bevor.Innerhalb des schwierigen Sommerhalbjahres sticht die Periode von Anfang Juni bis Anfang Juli mit besonders starkem saisonalen Gegenwind hervor. Schließlich müssen dann rund 4 Prozentpunkte der vorangegangenen Kursgewinne in nur einem Monat wieder hergegeben werden. Auch die Wahrscheinlichkeit für fallende Notierungen fällt in diesem “Worst Case”-Zeitraum mit 58 % überdurchschnittlich hoch aus. Vor diesem Hintergrund dürfte es dem Shanghai Composite in den nächsten Monaten schwer fallen, seinen seit 2015 bestehenden Baissetrend (aktuell bei 2 994 Punkten) erneut zu überwinden und das jüngste Abwärts-Gap bei 2 987/3 050 Punkten zu schließen. Ohne Rückenwind aus Fernost bzw. aus den USA geht auch der Dax schwereren Zeiten entgegen. Zumindest in den nächsten Monaten dürfte es deshalb in erster Linie um Kapitalerhalt gehen. *) Jörg Scherer ist Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland.