TECHNISCHE ANALYSE

Korrekturen brauchen Zeit

Von Sophia Wurm *) Börsen-Zeitung, 2.9.2015 Die langfristige Entwicklung des Stoxx Europe 600 (kurz Stoxx 600) lässt sich aus technischer Sicht bisher in zwei übergeordnete Phasen einteilen. In der ersten Phase hatte der Index ab 1992 eine...

Korrekturen brauchen Zeit

Von Sophia Wurm *)Die langfristige Entwicklung des Stoxx Europe 600 (kurz Stoxx 600) lässt sich aus technischer Sicht bisher in zwei übergeordnete Phasen einteilen. In der ersten Phase hatte der Index ab 1992 eine technische Bilderbuch-Hausse etabliert. Ausgehend von 89 Punkten war er so bis zum März 2000 auf Kurse um 408 Punkte gestiegen. Parallel zu der Entwicklung anderer wichtiger Indizes wie z. B. des S & P 500 und des Dax ging der Stoxx 600 im Anschluss in eine übergeordnete Seitwärtsbewegung über. Diese zweite Phase hat bis heute Bestand. Aus technischer Sicht wird die Seitwärtsbewegung von der Unterstützungszone im Bereich von 155 bis 160 Punkten auf der einen Seite sowie der Widerstandszone im Bereich von 400 bis 415 Punkten auf der anderen Seite begrenzt. TrendwechselspielInnerhalb der langfristigen Seitwärtsbewegung liegt ein Wechselspiel von mehrjährigen Auf- und Abwärtstrends vor. Seit März 2009 und einem Ausgangsniveau von 155 Punkten (Test der langfristigen Unterstützungszone) befindet sich der Stoxx 600 wieder in einem Aufwärts- bzw. Hausse-Trend. Die Trendlinie liegt aktuell bei ca. 330 Punkten. Im Zuge der Aufwärtsbeschleunigung zum Jahresauftakt 2015 führte ein kurzfristiger Aufwärtstrend den Stoxx 600 mit einem Kursanstieg von fast 25 % nicht nur in die langfristige Widerstandszone um 415 Punkte (Mitte April 2015), sondern auch in eine mittelfristig stark überkaufte Lage. Deshalb überrascht es nicht, dass der Index zunächst in eine technische Konsolidierung und zuletzt sogar in eine technische Korrektur hineingelaufen ist.Zuerst hatte der Index unterhalb der 15-jährigen Resistance-Zone eine Konsolidierung herausgebildet, die einen trendbestätigenden Charakter (nach oben) aufwies. Im Kontext der aufgekommenen Wachstumssorgen in Bezug auf China und andere Schwellenländer sowie der anhaltenden Diskussion um die bevorstehende US-Zinswende hat sich diese Konsolidierung mit dem Rutsch unter die 200-Tage-Linie und den darauf folgenden Kursverlusten zu einer technischen Korrektur bzw. (Zwischen-)Baisse (Kursrückgang von mehr als 20,0 % ausgehend vom April-Top bei 415 Punkten) ausgeweitet. Hierbei wurde der Index mit einem Mini-Sell-off bis zur Hausse-Trend-Linie um 330 Punkte durchgereicht. Als erste mittel- und langfristige technische Konsequenz wurde die 15-jährige Widerstandszone getestet und bestätigt. Um eine derartige Resistance-Zone zu überwinden, benötigt ein Index eine technisch hochwertige Gesamtsituation mit Blick auf die Marktbreite bei den Sektoren und den Index-Schwergewichten.Die seit Mitte April laufende Korrektur wird aber von einer ausgeprägten Aufspaltung unter den 19 Stoxx-Sektoren begleitet. Der Stoxx 600 selbst hat im Zeitraum von Mitte April bis Mitte August 2015 auf Schlusskursbasis über 17 % verloren. Im Kontext der stark unter Druck stehenden Rohstoffpreise weisen dabei die Sektoren Basic Resources und Oil & Gas mit Kursrückgängen von 33 % bzw. 28 % technisch gesehen desaströse Langfristcharts auf, wobei sich die seit dem Sommer 2014 vorliegende relative Schwäche dieser Sektoren fortsetzen sollte. Der Anteil des Stoxx Oil & Gas am Stoxx 600 ist vor diesem Hintergrund Mitte August auf 5 % (Rang 8 der 19 Sektoren) zurückgefallen. Zum Jahresbeginn 2002 war der Stoxx Oil & Gas mit einem Indexanteil am Stoxx 600 von 11,4 % noch der zweitgrößte Sektorindex. Neben diesen beiden Branchen sind allerdings auch bei zyklischen Sektoren mit einem hohen Exportanteil in Schwellenländer wie z. B. dem Stoxx Automobiles & Parts und dem Stoxx Chemicals, die einen Kursverlust von 24,9 % bzw. 19,9 % erlitten, nach Jahren der Bilderbuch-Hausse deutliche technische Eintrübungen zu finden. Klassisch defensive Branchen wie Telecom (Kursrückgang seit Mitte April 2015: – 12,6 %), Personal & Household Goods (-12,9 %) und auch Healthcare (-14,6 %) haben trotz ihrer mittelfristigen relativen Stärke diesmal nicht für einen – sonst für einen technischen Hausse-Zyklus üblichen – ausreichenden Ausgleich bei der Sektormarktbreite gesorgt, da sie selbst nur technische Haltepositionen sind. Technische KonsequenzenIn der Summe hat sich die Marktbreite im Stoxx 600 in den vergangenen Wochen derart eingetrübt, dass sich die folgenden technischen Konsequenzen andeuten. Erstens sollte sich die laufende Korrektur mit einer volatilen Seitwärtsbewegung fortsetzen. Zweitens sollte das technische Erholungspotenzial für die kommenden Wochen/Monate zunächst auf ein Zurücklaufen in Richtung der 200-Tage-Linie (aktuell bei ca. 380 Punkten) begrenzt bleiben. Drittens sollte es Monate dauern, bis der Index wieder einen Versuch zum Sprung über die 15-jährige Resistance-Zone vorbereitet. Viertens muss als Konsequenz einkalkuliert werden, dass der Stoxx 600 den zentralen Hausse-Trend (aus 2009) zur Seite verlässt, ohne dass dadurch eine Abwärtsbeschleunigung ansteht. Fünftens deutet sich nach sechs Hausse-Jahren mit einer erfolgreichen technischen “Buy and Hold”-Strategie zunächst der Übergang zu einem tradingorientierten Markt an. Dies würde sich erst wieder ändern, wenn der Stoxx 600 im Jahr 2016 die 15-jährige Widerstandszone überwinden kann und die dritte Phase der sehr langfristigen Entwicklung startet.—-*) Sophia Wurm ist bei Commerzbank Corporates & Markets tätig.