Neue Kursrisiken bei Volkswagen gesehen
Der Abgasskandal bei Volkswagen hält nicht nur Management und Aktionäre des größten europäischen Automobilkonzerns in Atem. Er hat Auswirkungen auch auf die Konkurrenten und die Zulieferer. Im Interview der Börsen-Zeitung erläutert Michael Punzet, Automobilanalyst der DZ Bank, die Folgen für die Unternehmen und die Anleger.- Herr Punzet, lassen sich die Folgen des VW-Skandals für das Unternehmen und seine Wettbewerber sowie die Zulieferer bereits erfassen und berechnen?Nein. Es ist derzeit unmöglich, die Auswirkungen des Skandals auch nur einigermaßen zuverlässig vorauszusehen und in die Schätzungen zu den Unternehmen der Branche einzuarbeiten. Die Unsicherheit bereitet den Unternehmen selbst, aber auch Analysten Probleme.- Wie ist denn die Bandbreite der möglichen finanziellen Belastungen für den VW-Konzern selbst?Die Bandbreite der Schätzungen reicht derzeit von 10 Mrd. Euro allein für den Rückruf – die zu erwartenden Strafzahlungen kämen hinzu – bis hin zu 100 Mrd. Euro, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) genannt hat. Dies ist sicherlich eine ungewöhnlich große Bandbreite. Angesichts der Vielzahl der Kläger und der Forderungen an VW ist das aber auch nicht anders zu erwarten.- Was ist aus Ihrer Sicht das wahrscheinlichste Szenario, und was wären die Folgen für VW? Hat sich Ihre Einstellung gegenüber der VW-Vorzugsaktie geändert?In unserem Szenario gehen wir von einer kleinen Beeinträchtigung auf der operativen Seite aus, also von rückläufigen Absatzzahlen und von sinkenden Restwerten und höheren Refinanzierungskosten im Bereich Finanzdienstleistungen des Konzerns. Was allerdings die rechtlichen Folgen angeht, haben wir noch keinerlei Beträge in unseren Prognosen berücksichtigen können, weil diese einfach noch nicht abschätzbar sind. Wir raten daher unseren Kunden wegen der erheblichen Unsicherheit dazu, gegenwärtig die Finger von der VW-Aktie zu lassen.- Haben Sie Ihr Kursziel schon angepasst?Ja, wir haben in unserem Kursziel die von uns erwarteten Kosten für die Rückrufaktion von in diesem Jahr wahrscheinlich 8 Mrd. Euro bereits berücksichtigt. Um den rechtlichen Risiken Rechnung zu tragen, haben wir die Risikoprämie erhöht und kommen dementsprechend auf einen fairen Wert von 78 Euro.- Am Aktienmarkt wird das derzeit etwas optimistischer gesehen. Die Aktie ist zunächst bis auf 86,36 Euro gefallen, notiert aber aktuell wieder bei 100,60 Euro.Wir kommen von Kurszielen um 160 Euro und haben diese auf weniger als 80 Euro korrigiert. Am Markt sehen wir derzeit aber eine gewisse Gegenreaktion nach den starken Verlusten, zumal es ja auch ein paar positive Nachrichten gab. So hat etwa China die Mehrwertsteuer bei Käufen von Fahrzeugen mit kleineren Motoren halbiert. Davon könnte VW profitieren. Zudem zeigen die zuletzt von Skoda und Audi veröffentlichten Absatzzahlen noch keine nennenswerten Auswirkungen der Krise. Wenn allerdings die nächsten Zahlen wie der Bericht des Konzerns über das dritte Quartal veröffentlicht werden, dann kann ich mir durchaus vorstellen, dass wir wieder Kurse im zweistelligen Bereich sehen.- Was könnte Sie dazu bewegen, Ihre aktuelle Verkaufsempfehlung zu revidieren? Müsste die Krise einen glimpflichen Verlauf nehmen?Zunächst müssten erst einmal die Folgen finanziell abschätzbar werden. So sind in den USA eine Vielzahl von Sammelklagen angekündigt. Wenn dort etwa eine Einigung mit den Klägern erfolgen würde, wäre schon einiges erreicht. Positiv wäre auch zu werten, wenn das Kraftfahrtbundesamt dem Konzern genügend Zeit gibt, den Rückruf vernünftig abzuwickeln. Es müsste sich also das gesamte Umfeld der Forderungen an VW aufklaren. Dann könnten wir zuverlässiger beurteilen, was an finanziellen Belastungen auf den Konzern zukommt, und über ein anderes Anlageurteil nachdenken. Aktuell halten wir die Unsicherheiten für zu groß, zumal wir ja auch noch nicht wissen, wie das Unternehmen die Mittel aufbringt, um die Forderungen zu erfüllen.- Wie hoch schätzen Sie die finanziellen Reserven ein, die VW lockermachen könnte?Zum Halbjahr kam der Konzern auf eine industrielle Nettoliquidität von 21,5 Mrd. Euro. Dazu kommt ein Mittelzufluss aus dem Verkauf der Suzuki-Anteile. Ende des Jahres dürfte es einen weiteren Mittelzufluss aus dem Verkauf der Beteiligung an Leaseplan geben. Damit würden wir eine Größenordnung von rund 27 Mrd. Euro erreichen. Davon geht noch ein Teil ab für das ausstehende Angebot bei MAN. Bei Belastungen von 20 bis 30 Mrd. Euro käme VW noch ohne größere Schäden davon. Sind die Belastungen höher, muss man sehen, wo noch Liquidität zu beschaffen wäre. Zu beachten ist dabei, dass VW selbst davon spricht, dass man etwa 10 Mrd. Euro benötigt, um den Geschäftsbetrieb am Laufen zu halten.- Was wären denn Optionen für Volkswagen, weitere Mittel verfügbar zu machen? Wäre der Verkauf von Audi-Aktien eine Option?Man könnte in der Tat einen Teil der Beteiligung an Audi von derzeit 99,6 % wieder über die Börse verkaufen. Eine weitere Option wäre eine Kapitalerhöhung bei den Vorzugsaktien des Konzerns. Spekuliert worden ist auch bereits darüber, dass Teile des Konzerns wieder verkauft werden könnten. Da bin ich allerdings skeptisch, weil die meisten Marken tief in den Konzern integriert sind, so dass es kaum möglich wäre, sie wieder herauszulösen. Zudem würde man etwa für MAN aktuell deutlich weniger erlösen, als VW selbst gezahlt hat. Und Scania hat man ja erst im vergangenen Jahr vollständig übernommen. Momentan halte ich daher einen Verkauf von Audi-Aktien und eine Kapitalerhöhung für die wahrscheinlichste Option im Fall höherer Belastungen.- Würde ein Verkauf von Audi-Aktien am Kapitalmarkt nicht als ein Notsignal des Konzerns interpretiert?Ich denke, dass ein solcher Schritt nicht unbedingt für Überraschung am Kapitalmarkt sorgen würde, weil klar ist, dass VW die Mittel aufbringen muss. Es würde allerdings deutlich machen, dass die Lage ernster ist, als man mit Blick auf die Rückstellungen von 6,5 Mrd. Euro denken könnte.- Wie hat sich Ihre Einschätzung der deutschen Automobilaktien als Folge des Skandals verändert?Mit Blick auf die Krise sind wir für die Aktien der Hersteller vorsichtiger geworden. Wegen der Unsicherheit etwa hinsichtlich schärferer Testbedingungen und Grenzwerte oder der Restwertentwicklung von Dieselfahrzeugen – ein Problem für die Finanzdienstleistungssparten – haben wir bei BMW und Daimler unsere Einstufungen auf “Halten” gesenkt.- Wenn man sich die Lage der gesamten deutschen Automobilindustrie ansieht, wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass sich als Ergebnis der Krise der Dieselmotor quasi erledigt hat?Wir gehen nicht davon aus, dass der Dieselmotor komplett vom Markt verschwindet. Wir können uns aber vorstellen, dass es zu einer gewissen Umorientierung kommt. Es könnte sein, dass sich der in Europa sehr hohe Dieselanteil zugunsten anderer Antriebssysteme – Beispiel Benzin oder Elektro – reduziert. Es wird aber darauf ankommen, wie sehr sich die Abgastestbedingungen verändern.- Würde den Herstellern dann wegen höherer Flottenverbräuche Ungemach drohen?Die Hersteller haben noch fünf Jahre Zeit, den ab 2020 geltenden Grenzwert von 95 Gramm CO2 pro Kilometer zu erreichen. Ich denke, die Unternehmen werden die notwendigen Lösungen rechtzeitig entwickeln.- Hat die deutsche Autoindustrie zu sehr auf den Diesel gesetzt und den Trend zur Elektromobilität verschlafen?Wenn man sich den europäischen Markt ansieht, so ist der Anteil von Elektrofahrzeugen an den Käufen sehr gering. Insofern gibt es für die Volumenhersteller noch keinen großen Markt, dessen Entstehung man verschlafen hätte. Anbieter wie Tesla oder BMW mit den i3- und i8-Modellen besetzen lediglich Nischen. Zudem gibt es das Problem der fehlenden Infrastruktur wie Elektro-Tankstellen. Wenn sich das Umfeld – also vor allem Infrastruktur und die staatliche Förderung – ändert, würden auch VW und Daimler schnell reagieren und Elektrofahrzeuge an den Markt bringen.- Kommen wir zu den Automobilzulieferern, bei denen es jetzt – Stichwort Leoni – neue Gewinnwarnungen gegeben hat. Wie schätzen Sie allgemein die Lage der Zulieferer und im Besonderen die Folgen des Abgasskandals für diese Unternehmen ein?Die jüngsten Gewinnwarnungen bei den Autozulieferern stehen unserer Meinung nach nicht mit dem VW-Problem in Zusammenhang, sondern beruhen auf individuellen Fehlentwicklungen. Ausgehend von unserem Szenario – Nachfrageverschiebung, aber kein gravierender Nachfragerückgang – erwarten wir keine signifikanten Auswirkungen auf die von uns beobachteten Zulieferer.- Welche Aktien aus diesem Bereich halten Sie für interessant, und welche sollten Anleger lieber meiden?Mit Blick auf die breite Aufstellung sehen wir derzeit Continental in diesem Bereich als interessanteste Alternative. Bertrandt könnte von einer Änderung der regulatorischen Rahmendaten profitieren. Vorsichtig sind wir hingegen bei Leoni und ElringKlinger nach den jüngsten Gewinnwarnungen.—-Das Interview führte Dieter Kuckelkorn.