GELD ODER BRIEF

Ocado verlangt einen starken Glauben

Von Andreas Hippin, London Börsen-Zeitung, 3.8.2018 Ein Investment in Aktien des Online-Supermarkts Ocado ist für viele eine Glaubensfrage. Im ersten Halbjahr hat die Gesellschaft dem britischen Lebensmitteleinzelhandel erneut gezeigt, wie Wachstum...

Ocado verlangt einen starken Glauben

Von Andreas Hippin, LondonEin Investment in Aktien des Online-Supermarkts Ocado ist für viele eine Glaubensfrage. Im ersten Halbjahr hat die Gesellschaft dem britischen Lebensmitteleinzelhandel erneut gezeigt, wie Wachstum geht. Sie steigerte den Umsatz um 12 %. Den traditionellen Supermarktbetreibern machten höhere Importpreise, der steigende Mindestlohn und die Konkurrenz von Discountern wie Aldi und Lidl zu schaffen. Gemessen an den hohen Erwartungen hat sich das Geschäft von Ocado gut entwickelt. Im September 2012 hatten Analysten für 2020 im Schnitt 1,7 Mrd. Pfund Umsatz erwartet. Zwei Jahre später waren es 2,4 Mrd. Pfund. Mittlerweile liegt der Prognoseschnitt bei 2,1 Mrd. Pfund. Im ersten Halbjahr 2018 lag der Erlös bereits bei 800 Mill. Pfund. Das Ergebnis vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen und Amortisation (Ebitda) sank aber wegen hoher Investitionen um 14 %. Am Markt hatten viele mehr Gewinn erwartet. Von 18 bei Bloomberg erfassten Empfehlungen lauten nun 6 auf “Kaufen”, 8 auf “Halten” und 4 auf “Verkaufen”.Der Analyst George Salmon vom Vermögensverwalter Hargreaves Lansdown verglich die schwache Gewinnentwicklung mit einem “Klecks im Schreibheft”. Bei Ocado gehe es um die Zukunft. In Zukunft werde man das Unternehmen eher als globalen Technologielieferanten beschreiben denn als Nischenanbieter für Lebensmittel im Internet. Es hat eine ganze Reihe neuer Technologien eingeführt, um die Einkäufe der Kunden effizienter zusammenzustellen und auszuliefern, und betreibt mehrere weitgehend automatisierte Lieferzentren (CFC) im Süden Englands. Logistikunternehmen Im Grunde handelt es sich um ein Logistikunternehmen. Anders als der traditionelle Lebensmitteleinzelhandel verfügt Ocado selbst über keine nennenswerte eigene Lieferkette. Der Großteil der Produkte wird über eine Partnerschaft mit der Nobelsupermarktkette Waitrose (John Lewis) beschafft, was ein qualitativ hochwertiges Angebot ermöglicht. Das Unternehmen beschränkt sich auf wohlhabende Regionen, in denen die Menschen ihren täglichen Bedarf nicht komplett bei Discountern decken. Das Wachstum im britischen Online-Lebensmittelgeschäft hat sich branchenweit allerdings von 13 % im Jahr 2015 auf knapp 5 % 2017 verlangsamt. Der Anteil am Gesamtmarkt stieg 2017 dem Marktforscher Nielsen zufolge nur um einen Prozentpunkt. Mittlerweile liefern fast alle großen Ladenketten online bestellte Produkte gegen eine mehr oder weniger hohe Gebühr nach Hause. Dabei gibt es große Unterschiede, was Qualität und Erhältlichkeit sowie die Verfügbarkeit der gewünschten Lieferzeit angeht. Die hohe Kundenzufriedenheit der Ocado-Fans ist ein Aushängeschild für das interessanteste Geschäft der Gesellschaft Ocado: Solutions. Das Unternehmen bietet anderen Einzelhändlern an, gegen eine Beteiligung am Bruttoumsatz im mittleren einstelligen Prozentbereich ihr Online-Geschäft zu betreiben. In Großbritannien greift WM Morrison Supermarkets darauf zurück. Die “Ocado Smart Platform” wurde bereits an Sobeys in Kanada, Groupe Casino in Frankreich und ICA Group in Schweden verkauft. Eine Partnerschaft mit dem Wal-Mart-Rivalen Kroger öffnete Ocado den US- Markt. Als sie verkündet wurde, schoss die Aktie nach oben. Leerverkäufer, die dem Unternehmen nach dem Einstieg von Amazon ins britische Lebensmittelgeschäft nicht mehr viel zugetraut hatten, verzeichneten empfindliche Buchverluste. Vielleicht erinnerte sich auch der eine oder andere noch an den Untergang der US-Firma Webvan, die zur Zeit der Internetblase US-Verbrauchern die Kühlschränke füllen wollte.”Wir glauben, Ocado hat das Potenzial, als Betriebssystem des Einzelhandels über alle Segmente hinweg zum ,Standard` für die Logistik der Branche zu werden”, so die Analysten von Peel Hunt. Die Firma könne dann zu so etwas wie “Microsoft für den Einzelhandel” werden. Die 100 größten traditionellen Einzelhändler weltweit hätten 2016 insgesamt 3,4 Bill. Dollar Umsatz erwirtschaftet. Investiert würden davon 2,6 % oder 89 Mrd. Dollar. Ins Fulfilment dürften 35 Mrd. Dollar gesteckt werden. Dieser Markt sei für Ocado mittelfristig zugänglich. Käme die Firma dabei auf einen Marktanteil von 30 %, wären das 11 Mrd. Dollar Umsatz.Dafür wären aber erhebliche Investitionen in die IT und die Belegschaft erforderlich. Die Ocado-Technologiezentren in Bulgarien, Großbritannien, Polen und Spanien haben bereits mehr als 1 100 Beschäftigte. Zu den Schwerpunkten der Entwicklungstätigkeit gehört die Robotik. Ocado erprobt sowohl Roboterhände als auch Ansaugvorrichtungen, um die Zusammenstellung der von den Kunden bestellten Waren in den Lieferzentren weiter zu beschleunigen. Die Technologie kann ebenso in einem Lagerschuppen mit drei Robotern und 100 Produkten eingesetzt werden wie in einem brandneuen Logistikzentrum mit 3 000 Robotern und 50 000 Produkten. UBS zufolge könnte es sehr lukrativ sein, die OSP-Technologie auf andere E-Commerce-Segmente anzuwenden. Ocado erwarte, dass im CFC Erith mehr als 200 Bestellungen pro Stunde abgearbeitet werden können. Amazon strebe in ihren britischen Lieferzentren einen Wert von 120 an. Nötige Investitionen könnten gegebenenfalls durch Anleihen oder Kredite finanziert werden. Derzeit hat Ocado keine Schulden, sondern pro forma eine positive Nettofinanzposition von 190 Mill. Pfund. Peel Hunt empfiehlt Ocado jedoch, sich nicht auf exklusive Deals zu beschränken. Die Analysten fürchten, dass es Ocado in der Welt der Einzelhandelsbetriebssysteme sonst ähnlich ergehen könnte wie Apple mit dem Mac OS. Irgendwann komme ein Produkt wie “Android”, das billiger und offener sei. Die Bewertung nimmt einen guten Teil der möglichen Chancen vorweg. Ocado ist alles andere als ein Geheimtip. Während für Supermärkte wie WM Morrison oder Tesco im Schnitt ein Unternehmenswert in Höhe des 6,9-Fachen des für 2020 erwarteten Ebitda angesetzt wird, kommen E-Commerce-Firmen wie der Elektrohändler AO World und Softwareunternehmen wie Aveva oder Fidessa im Schnitt auf ein Multiple von 19. Ocado wird dagegen mit mehr als dem 50-fachen Ebitda bewertet. Wer zu solchen Kursen einsteigt, braucht einen starken Glauben.