„Kurzfristig deutliche Preisausschläge möglich“
Im Interview: Nitesh Shah
„Deutliche Preisausschläge möglich“
Wisdom Tree: Ölmarkt reagiert stark auf geopolitische Krisen, langfristig hat die Opec plus den Ölpreis aber im Griff
Im Interview der Börsen-Zeitung erläutert Nitesh Shah, Leiter Rohstoff- und Makro-Research für Europa bei Wisdom Tree, weshalb der Ölpreis auf geopolitische Krisen stark reagieren kann, die Opec plus aber langfristig die Kontrolle über den Ölmarkt behalten wird.
Herr Shah, was sind die Gründe für den zeitweise starken Anstieg des Ölpreises, den wir 2024 gesehen hatten?
Beginnen wir mit den fundamentalen Daten. Im vergangenen Jahr haben wir einen recht starken Anstieg der Nachfrage gesehen, um ungefähr 2,5 Mill. Barrel pro Tag (bpd). Zurückzuführen ist dies vor allem auf die Wiederöffnung der chinesischen Volkswirtschaft nach den durch die Pandemie bedingten Lockdowns. Darüber hinaus zeigte sich die Weltwirtschaft recht robust, auch wenn nicht alle Erwartungen erfüllt worden sind. Mit Blick auf 2024 ist ein solch starkes Nachfragewachstum eher nicht zu erwarten.
So rechnet beispielsweise die Internationale Energieagentur IEA mit einem Anstieg um 1,4 Mill. bpd, die Energy Information Administration (EIA) geht von einem ähnlichen Wachstum aus. Nur die Ökonomen der Opec fallen mit einer Prognose von 2,2 Mill. bpd ein wenig aus dem Rahmen. Inzwischen passen IEA und EIA ihre Erwartungen an diejenigen der Opec an. Wobei die Frage ist, wie überzeugt die Opec von ihrer veröffentlichten Prognose ist. Denn andererseits hat sie ihre Förderkürzungen bis zur Jahresmitte verlängert, was für gewisse Sorgen mit Blick auf eine Abschwächung der Nachfrage spricht.
Könnte der Ölpreis dann auch wieder deutlich absinken?
Nun, ich denke, der Ölpreis ist nach unten insofern abgesichert, als die Opec in einem solchen Fall ihre Produktion kürzen würde. Aber nach oben hin gibt es ebenfalls eine Art Begrenzung. Denn bei einem deutlichen Anstieg über das gegenwärtige Niveau hinaus könnte die Opec einfach ihre Exportmengen erhöhen, um ihre Einnahmen zu sichern. Außerdem wissen die Verantwortlichen der Opec, dass eine längere Phase sehr hoher Preise den Produzenten außerhalb der Opec Anreize für eine deutliche Ausweitung ihre Produktion geben würde.
Was bedeutet das für den Ölpreis?
Der Ölpreis wird also wahrscheinlich in einer bestimmten Bandbreite bleiben. Zudem dürfte der Ölmarkt im Zustand der Backwardation verharren, was bedeutet, dass die kurzfristigen Kontrakte höher notieren als die langfristigen. Das sichert den Marktteilnehmern sogenannte Roll-Gewinne beim Übertragen von auslaufenden Kontrakten in die nächsten Laufzeiten. Dies sollte im Interesse der Opec liegen, die anstrebt, dass kurzfristig Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen und dass die Konsumenten nicht verstärkt für schlechte Zeiten Öl horten.
Wie wirkt sich die geopolitische Lage auf den Ölpreis aus?
Wir haben ohne Zweifel eine gewisse geopolitische Risikoprämie im Ölpreis. Dabei geht es vor allem um die Lage im Roten Meer und um den Krieg im Gazastreifen. Als der Krieg zwischen der Hamas und der israelischen Armee im Oktober begann, gingen die meisten Beobachter davon aus, dass es sich um einen Krieg ausschließlich dieser beiden Kontrahenten handeln würde. Seit die jemenitische Huthi-Miliz ihre Aktivitäten im Roten Meer begann, hat die Zahl der Öltanker, die das Rote Meer und den Suezkanal nutzen, deutlich abgenommen. Derzeit sieht es nicht danach aus, als gäbe es hier eine rasche Lösung. Der jetzt erforderliche große Umweg bedingt, dass es nun sehr viel mehr Bestände an Öl auf See gibt und relativ dazu gesehen weniger auf dem Land. Dies führt mitunter zu Schwierigkeiten.
Nach Einschätzung der Nachrichtenagentur Reuters haben die ukrainischen Drohnenangriffe angeblich zeitweise rund 15% der russischen Raffineriekapazitäten außer Betrieb gesetzt. Hat so etwas Auswirkungen auf den Weltmarkt für Öl, Diesel oder Benzin?
Die Auswirkungen halten sich in engen Grenzen, was auch damit zu tun hat, dass Russland bereits vorher aufgrund der Sanktionen Probleme mit dem Export von Öl und Ölprodukten hatte. Die Angriffe setzen Kapazitäten für die Verarbeitung von Rohöl außer Betrieb. Gleichzeitig sind aber die Kapazitäten in China und Indien vergrößert worden. Außerdem ist zu erwarten, dass die Ausfälle nur von relativ kurzfristiger Natur sind und die Anlagen relativ schnell wieder in Betrieb genommen werden können.
Sie sprachen davon, dass die Opec plus darum bemüht ist, den Ölpreis in einer für die führenden Mitglieder sinnvollen Preisspanne zu halten. Was heißt das aus Sicht von Saudi-Arabien? Das Opec-Schwergewicht ist ja bemüht, den Staatshaushalt ausgeglichen zu halten.
Damit Saudi-Arabien die Staatsausgaben und seine Einnahmen in Übereinstimmung bringen kann, ist das Land höchstwahrscheinlich auf einen Ölpreis von ungefähr 80 Dollar je Barrel angewiesen – weniger als in der Vergangenheit. Außerdem wird erwartet, dass die saudische Regierung weitere Anteile des halbstaatlichen Konzerns Saudi Aramco verkaufen könnte, was zusätzliches Geld in die staatlichen Kassen spülen würde. Saudi-Arabien ist langfristig orientiert. In den vergangenen Jahren musste das Land Marktanteile an US-Produzenten abgeben, so dass mittlerweile die USA das Land mit der größten Ölförderung sind. Saudi-Arabien ist wohl bewusst, dass die USA in zehn Jahren kein Öl mehr haben dürften, wenn sie im gegenwärtigen Tempo weiter produzieren.
Wo liegen denn die Probleme insbesondere in der Förderung von Schieferöl in den USA?
In den USA stammt das meiste Öl aus dem Fracking. Die Investitionen, die dies erfordert, sind hoch. Inzwischen gab es zwar einige Produktivitätsfortschritte, insbesondere im Permian-Becken. Es ist aber eine Tatsache, dass die Lagerstätten in anderen Regionen relativ schnell zur Neige gehen. Ein Problem der Förderung im Permian-Becken liegt darin, dass dort immer mehr Erdgas mitgefördert wird, wenn die Ölmengen steigen. Denn das Öl enthält dort immer mehr Gasanteile. Dies führt zu einem regelrechten Kollaps der Erdgaspreise in den USA. In Saudi-Arabien ist man sich daher sicher, dass man die Marktanteile zurückerhält, die man zuletzt abgegeben hat.
Worin liegen momentan die größten Risiken für den Ölpreis?
Nun, von besonderer Bedeutung ist sicherlich die Lage rund um den Iran. Der Iran war trotz der Sanktionen zuletzt in der Lage, seine Exporte deutlich auszubauen, weil die USA Gespräche über das iranische Atomprogramm wiederbeleben wollten. Die gegenwärtige US-Administration ist dem Iran gegenüber offener eingestellt, als es die US-Regierung in der Vergangenheit war. Das alles könnte sich allerdings mit einem Regierungswechsel in Washington nach den Wahlen im September wieder ändern. Wenn man die geografische Lage des Landes betrachtet, so ist die vom Iran kontrollierte Meeresenge von Hormus der bedeutendste kritische Punkt der weltweiten Öltransporte. Iranisches Öl unterliegt bereits seit den 1970er Jahren Sanktionen, das Land hat daher viel Erfahrung in der Umgehung solcher Beschränkungen. Die USA haben bekanntlich extraterritoriale Sanktionen verhängt, die auch andere Länder daran hindern sollen, iranisches Öl zu kaufen. Allerdings werden diese momentan nicht besonders stark durchgesetzt.
Wir hätten kürzlich beinahe einen Krieg zwischen dem Iran und Israel erlebt. Was würde im Fall einer Sperrung der Straße von Hormus mit dem Ölpreis geschehen? Einige Beobachter halten ein Niveau von 200 Dollar für möglich.
Der Ölmarkt ist so strukturiert, dass bereits eine kleinere Störung des Angebots einen deutlichen Anstieg des Preises bewirken kann. Wir sprechen hier von einer möglichen Unterversorgung von ein bis zwei Prozent des Marktvolumens. Aber ein dadurch verursachter deutlicher Anstieg des Ölpreises wäre nicht nachhaltig und dauerhaft, weil die Opec plus freie Kapazitäten hat und mehr als 50% des weltweiten Ölangebots kontrolliert. Kurzfristige deutliche Ausschläge des Ölpreises sind aber möglich.
Bis vor einer gewissen Zeit waren wir noch davon ausgegangen, dass es im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg weltweit nicht genug Erdgas gibt. Nun sieht es fast schon nach einer deutlichen Überversorgung des Weltmarktes aus. Bedeutende Anbieter wie Katar wollen ihr Angebot sogar noch weiter ausbauen. Wie beurteilen Sie derzeit die Perspektiven für den Erdgasmarkt?
Derzeit ist der Erdgasmarkt deutlich überversorgt. Der Gasmarkt ist dabei ganz anders organisiert als der Markt für Erdöl. Es handelt sich um einen stark fragmentierten Markt. Jede Weltregion hat ihre eigene Preisdynamik – wenngleich man eine gewisse Globalisierung beobachten kann, weil LNG-Erdgas von einem Teilmarkt auf den anderen transportiert wird. Katar, die USA und Australien sind große Produzenten, die ihr Angebot weiter ausbauen. Das verringert auch die Preisunterschiede. Ich gehe davon aus, dass die amerikanischen Preise, die derzeit sehr niedrig sind, ein wenig steigen werden. Die europäischen Preise sollten längerfristig etwas nachgeben. In Europa sollte man sich aber auf eine weiterhin hohe Volatilität einstellen. Das liegt unter anderem daran, dass die Speichermöglichkeiten für Erdgas begrenzt sind. Man kann nur für einige Monate Gas speichern. So dürfte ein harter Winter im Fall einer Erholung der europäischen Industrie für einen starken Preisanstieg sorgen. Investitionen in mehr Speicher sind nicht zu erwarten, weil Erdgas als fossiler Energieträger gilt und Finanzmittel in erneuerbare Energien umgeleitet werden – zumal mit dem Wachstum der erneuerbaren Energien der Anteil von Erdgas zurückgeht. Daher wird der Erdgaspreis in Europa wohl sehr volatil bleiben.
Die grüne Transition kostet sehr viel Geld. In der Zwischenzeit haben wir aber zu wenig Investitionen in fossile Energien, mit der Folge, dass bei diesen Energien die Preise stark steigen und es die hohen Energiekosten schwieriger machen, die Investitionen für umweltfreundliche Energien aufzubringen. Ist das ein größeres Problem?
Nun, sollten die Kosten für die grüne Transition zu sehr steigen, ist mit politischen Protesten zu rechnen. Die Preise für fossile Energien als Brückentechnologie dürfen also nicht allzu stark steigen. Und für den Ölpreis gibt es beispielsweise mit der Opec einen Mechanismus, der zu starke Preissteigerungen verhindert. Aber man muss auch sehen, dass diese Argumente oftmals ein wenig überbetont werden – beispielsweise von den großen Ölkonzernen, denen ein langsamerer Wandel sicher zupass käme.
Das Interview führte Dieter Kuckelkorn.