Osteuropa kann Brexit wirtschaftlich verkraften
Von Nikola Stephan *)Der große Knall ist ausgeblieben in den Tagen nach dem UK-Referendum. Viele Märkte machten sich das britische Motto “Keep calm and carry on” zu eigen, ein Schlachtruf, der auch manchem britischen Politiker gut angestanden hätte. Stattdessen sahen die Briten und ihre EU-Nachbarn fassungslos zu, wie sich Tories und Labour innerhalb weniger Tage fast selbst zerlegten, bevor es zur überraschend schnellen Nachfolge im Premieramt kam. Die theaterreife Vorstellung der britischen Führungsriege löste im Rest der EU unterschiedlichste Reaktionen aus. Während die einen es eher als abschreckendes Beispiel ansahen, fühlten sich andere darin bestärkt, die EU als Institution in Frage zu stellen.Befürchtungen, dass das Referendum besonders in Mittel- und Osteuropa für Sprengstoff sorgen könnte, haben sich bislang allerdings nicht bestätigt. Zwar haben die Märkte unmittelbar am Tag der Entscheidung sowohl ungarische als auch polnische Lokalwährungsanleihen abgestraft, allerdings hielten sich die Auswirkungen in Grenzen, und die anfänglichen Verluste wurden schnell wieder wettgemacht. Dabei war insbesondere Polen in das Visier der Märkte geraten. Das Land bekommt im regionalen Vergleich die größte Summe aus Brüssel überwiesen und wird auch wegen seiner zuletzt EU-kritischen Politik als ansteckungsgefährdet eingestuft. Geringe ExportabhängigkeitDie direkten wirtschaftlichen Konsequenzen eines Brexits dürften in Polen allerdings überschaubar bleiben. Das Land hat die geringste Exportabhängigkeit der drei großen osteuropäischen Länder (Polen, Tschechien und Ungarn) und liegt mit einem UK-Exportanteil von knapp 3 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Vergleich zu seinen Mitstreitern auf dem letzten Platz. Ungarn und Tschechien sind dagegen weitaus stärker von Exporten abhängig. Allerdings liefert Ungarn nur begrenzt Waren ins Vereinigte Königreich und kommt deswegen besser weg als Tschechien, das mit einem UK-Exportanteil von knapp 5 % des BIP einer UK-Rezession am stärksten ausgeliefert wäre.Hinzu kommt, dass sich eine aus dem Brexit-Referendum resultierende Abschwächung der EU-Wirtschaft und insbesondere des Haupthandelspartners Deutschland bei allen dreien negativ in der Handelsbilanz bemerkbar machen dürfte. Insgesamt gehen ca. 80 % der polnischen und ungarischen Exporte derzeit in die EU, in Tschechien sind es sogar 90 %. Allerdings haben alle drei Länder nicht zuletzt wegen moderater Wachstumsaussichten in Großteilen der EU bereits vorher auf die inländische Nachfrage als Wachstumsmotor gesetzt, wodurch die Auswirkungen des Brexits gemildert werden dürften. Erhöhte UnsicherheitErhöhte Unsicherheit und schwächelnde Wachstumsdynamik könnten sich auch negativ auf die ausländischen Direktinvestitionen auswirken. Insbesondere für Ungarn steht mit Zuflüssen von zuletzt über 9 % des BIP einiges auf dem Spiel. Allerdings kommt hier gut ein Drittel des Investitionsbestandes von außerhalb der EU. Somit dürfte das Land nicht allzu stark von den Brexit-Konsequenzen betroffen sein. Obwohl Polen und Tschechien weniger Direktinvestitionen anziehen, waren 2014 ca. 90 % der bestehenden Investitionen aus der EU, so dass längerfristige negative Folgen auch hier nicht auszuschließen sind.Auch die öffentlichen Investitionen könnten unter Brexit-Druck geraten: Bislang ist noch unklar, wie die Beziehung zwischen UK und EU aussehen wird, wenn der zweijährige Scheidungsprozess beendet ist. Die Briten hätten gern den freien Zugang zum EU-Binnenmarkt, aber ohne Personenfreizügigkeit und Pflichtbeitrag zum EU-Topf. So einfach wird Brüssel es ihnen aber nicht machen, und so besteht zumindest bis zur endgültigen Klärung für die Mitteleuropäer zusätzlich die Gefahr, dass das EU-Budget ohne den britischen Beitrag schrumpft und somit weniger Gelder in den Ländern ankommen.Obwohl Polen absolut die höchste Summe aus Brüssel erhält, ist Ungarn das schwächste Glied in der Kette. Mit einem EU-Zufluss in Höhe von 5 % des BIP liegt das kleine Land immer noch vor seinen tschechischen und polnischen Kollegen, die nur 2 bis 3 % erhalten. Insgesamt sind 95 % der öffentlichen Investitionen in Ungarn von der EU kofinanziert. Polen stark betroffenZu den Risiken für Exporte und Investitionen kommt auch noch die Gefahr, dass der Zugang zum britischen Arbeitsmarkt verschlossen oder zumindest eingeschränkt werden könnte. Hier wiederum ist Polen besonders stark betroffen. 2014 haben über 850 000 Polen im Vereinigten Königreich gelebt. Obwohl es äußerst unwahrscheinlich ist, dass nun alle das Land verlassen müssen, besteht die Gefahr, dass sich die Einschränkungen negativ auf die Überweisungen in die Heimat sowie den polnischen Arbeitsmarkt auswirken. Allerdings hätten die von Großbritannien verhandelten Kürzungen von Sozialleistungen ohnehin die Zahlungen reduziert, so dass der Nettoeffekt auch hier eher gering ausfallen dürfte.Während die wirtschaftlichen Konsequenzen spürbar, aber nicht desaströs werden dürften, heizt das Brexit-Votum die Stimmung in der EU ordentlich an. Tschechien hält sich bislang mit kritischen Bemerkungen zurück. Auch die polnische Regierung hat sich bisher zur EU bekannt, allerdings deutlich ihrer Hoffnung auf Änderung Luft gemacht. Warschau gibt nur äußert ungern Souveränität an Brüssel ab und hat dies in den vergangenen Monaten auch immer wieder gezeigt. Am brisantesten ist aber die Lage in Ungarn. Im Oktober dürfen die Ungarn über die Frage abstimmen, ob die EU Flüchtlingsquoten ohne Zustimmung des nationalen Parlaments bestimmen können sollte. Die Formulierung der Frage gibt wenig Anlass zur Hoffnung, dass sich hier ein EU-freundliches Ergebnis abzeichnen könnte, und hat somit das Potenzial, die Stimmung weiter anzuheizen. Vorzüge werden geschätztTrotzdem weiß man aber in Warschau, Prag und Budapest die Vorzüge der EU zu schätzen. Die Sorge hier ist also nicht nur, dass ein britisches Ausscheiden zu viel EU bringen könnte, sondern auch, dass der Brexit die Eurozone näher zusammenrücken lässt, während osteuropäische Bedürfnisse auf der Strecke bleiben.Auch wenn die EU-Politik reichlich Anlass zur Skepsis liefert, besteht Hoffnung, dass die EU bereits fest in den Köpfen der Europäer verankert ist: Immerhin sehen sich laut Eurobarometer ca. 70 % der Polen und Ungarn als EU-Bürger, und auch in Tschechien sind es noch fast 60 %. Das UK-Votum hat gezeigt, dass sich gerade unter Jüngeren viele EU-Anhänger finden lassen. Dies sind vielversprechende Anzeichen dafür, dass das EU-Projekt noch lange nicht am Ende ist. Konstruktive und zügige Verhandlungen mit Großbritannien wären jetzt ein wichtiger Schritt, um anhaltende Unsicherheit, die dann auch wieder die Märkte belasten könnte, zu vermeiden.—-*) Nikola Stephan ist Volkswirtin im Makro-Research der DekaBank.