"Peak Oil" in Sibirien
Russland hat seine Ölproduktion deutlich aufgedreht und ist zum weltgrößten Produzenten geworden. Fraglich ist, ob angesichts des stark gestiegenen Ölpreises eine zusätzliche Ausweitung möglich ist. Putin glaubt daran, der Chef des zweitgrößtren Ölkonzerns Lukoil widerspricht ihm allerdings. Von Eduard Steiner, MoskauDas Interview, das Wagit Alekperow der russischen Wirtschaftszeitung “Wedomosti” gegeben hatte, war halt schon publiziert. Andernfalls hätte es der Chef und Mehrheitseigentümer von Russlands zweitgrößtem Ölkonzern Lukoil vielleicht noch korrigieren lassen. Vielleicht aber auch nicht, denn der 68-Jährige ist ein ziemlich offener und geradliniger Charakter, der den verbalen Spielraum im russischen Establishment sehr wohl kennt. Weil er aber ebenfalls die Ölbranche kennt wie seine eigene Westentasche, kam es dazu, dass er in seinem Interview vom vergangenen Mittwoch den politischen Entscheidungsträgern im Land und Kremlchef Wladimir Putin direkt widersprach: “Soviel ich weiß, haben die russischen Unternehmen das maximal mögliche Förderausmaß erreicht, und wir auch”, sagte Alekperow. Ja, es würden Projekte geprüft, die eine Ausweitung der Produktion erlauben könnten. Aber im Moment sei “alles am Maximum angelangt!”Putin sieht das anders. Bei Bedarf “können wir die Förderung noch um 200 000 bis 300 000 Barrel pro Tag” ausweiten, sagte er am Mittwoch auf dem russischen Energiekongress. Schützenhilfe bekam er dabei von Energieminister Alexander Nowak, der Alekperow direkt widersprach und ebenso erklärte, dass noch Luft nach oben bestünde: “Wir haben Prognosen, dass wir die Förderung erhöhen können, zumal jetzt stimulierende Maßnahmen ausgearbeitet werden”, sagte er.Was angesichts einer globalen Ölrekordförderung von zuletzt 100 Mill. Barrel pro Tag (bpd) in seiner Größenordnung wie ein Streit um des Kaisers Bart daherkommt, ist in Wirklichkeit von großer Bedeutung. Schließlich ist Russland größter Ölförderer der Welt. Und schließlich ist der Markt derzeit “sehr nervös und sehr emotional”, wie Nowak richtig anmerkte. Zuletzt mehrten sich die Prognosen, dass der Preis für die in Europa relevante Nordseesorte Brent schon in den kommenden Monaten auf 100 Dollar je Barrel steigen könnte.Es wäre die logische Fortsetzung dessen, was sich seit Mitte August auf dem Ölmarkt abspielt und was man so nicht oft zu sehen bekommt. Um 20 % legte der Preis bis vergangene Woche auf über 85 Dollar je Barrel zu, ehe er am Montag leicht korrigierte. Seit Mitte des Vorjahres ergibt das ein Plus von mehr als 85 %. Gewiss, angesichts der Tatsache, dass die Notierung in den Jahren davor von 115 Dollar (Mitte 2014) auf unter 30 Dollar (Januar 2016) abgesackt war, ist die jetzige Gegenbewegung zum Teil auch eine Kompensation. Dass der Preisauftrieb aber so rasant verläuft und so stark ausfällt, hat doch andere und vor allem mehrere Gründe. Und sie freut nicht einmal Produktionsländer, wie diversen Aussagen zu entnehmen ist. Geschweige denn die Konsumenten.So hat sich US-Präsident Donald Trump wiederholt und zuletzt auf der UNO-Generalversammlung Ende September darüber beschwert, dass die Organisation Erdöl fördernder Länder (Opec) die Produktion nicht anhebt und damit den hohen Preis zu verantworten hat. Preistreiber USADas stimmt höchstens zum Teil, denn einer der größten Preistreiber sind im Moment die US-Sanktionen gegen den Iran. Zwar hat sich das Opec-Kartell in einer neuen Allianz mit Russland und zehn weiteren Ölstaaten (sogenannte “Opec plus”) Ende 2016 auf Förderkürzungen verständigt und so den voraufgehenden Preisverfall beendet. Aufgrund der inzwischen neuen Marktsituation jedoch hat es seit Beginn dieses Sommers die Hähne wieder etwas weiter aufgedreht.Das machte auch Russland. Und zwar von Juli bis September im Ausmaß von 400 000 bpd, wie Putin sagte. Nachdem es seit 2016 die Förderung um 300 000 bpd gekürzt hatte, bedeutet dies, dass das Land mehr aus der Erde holt als vor 2016. Damit nicht genug, überschritt die Förderung im September das Volumen von 11,36 Mill. bpd, was einem absoluten Rekord gleichkommt. Noch nie in seiner Geschichte hat Russland so viel Öl produziert wie derzeit.Dass Putin und Nowak für den Bedarfsfall trotzdem eine Ausweitung der Förderung andeuten und eine solche schon mit dem zweitgrößten Ölproduzenten Saudi-Arabien abgestimmt haben, wie Reuters in Erfahrung gebracht haben will, kann fürs Erste auch als verbale Beruhigung des Marktes gedacht sein – immerhin sank der Ölpreis während Putins Auftritt am Mittwoch kurzzeitig um 1 %. Ob und wann Russland die Förderung aber tatsächlich noch ausweiten könnte, ist unter Marktteilnehmern und Experten umstritten. Mehrere Manager der großen russischen Ölkonzerne bestätigten gegenüber “Wedomosti” Alekperows Befund, dass das Ende der Fahnenstange erreicht sei.Das hat zum einen damit zu tun, dass die Lagerstätten in Westsibirien und im Ural-Wolga-Gebiet, die in den 1960er bis 1980er Jahren entdeckt und erschlossen worden sind und die bis heute den Großteil der russischen Förderung abdecken, sukzessive versiegen und nur mit neuen Technologien verstärkt ausgebeutet werden könnten. Das hat zum anderen damit zu tun, dass der lange niedrige Ölpreis die Ausgaben für Investitionen in neue Lagerstätten schrumpfen ließ, zumal die westlichen Sanktionen untersagen, Russland Spezialtechnik zur Exploration und Förderung von Tiefsee-Öl, arktischem Öl oder Schieferöl zu liefern. Und das hat zum Dritten damit zu tun, dass die Branchengesetzgebung im Land über Jahre erratisch war und umstrittene Besitzumverteilungen, sprich Renationalisierungen, etwa bei den reichen arktischen Ölfeldern namens “Trebs und Titow” mit Investitionssenkungen einhergingen, wie Alekperow sagt.Auch Energieminister Nowak weiß um die Brisanz. Zwar werde der “Peak Oil”, also der Höhepunkt der Förderung, in Russland erst 2021 eintreten, wenn die diesjährige Produktion von 555 Mill. Tonnen auf 570 Mill. Tonnen gestiegen sein werde, wie er auf einer Regierungssitzung sagte: Aber wenn es zu keinen gesetzlichen Stimulierungsmaßnahmen komme, dann werde die Förderung in Westsibirien bis 2035 um 44 % auf 310 Mill. Tonnen fallen.”Peak Oil” sei schon da, meint Alexandr Kornilow, Ölanalyst beim Brokerhaus Aton gegenüber “Wedomosti”: “Die Unternehmen werden die Investitionen in die Bohrung erhöhen müssen, um einfach die rückläufige Förderung zu kompensieren”.Zusätzliche Bohrungen seien nötig, aber zeitaufwändig, weshalb eine Ausweitung der Förderung um 300 000 bpd nicht vor Mitte 2019 möglich sei, so Wasilij Tanurkow, Analyst der russischen Ratingagentur Akra: “Im Unterschied zu Saudi-Arabien haben wir praktisch keine freien Kapazitäten.”