Revolution am Geldmarkt
Von René Albrecht*)
Es ist das Ende einer Ära, eine Zäsur für Finanzmärkte und Banken. Anfang März bestätigte die Financial Conduct Authority (FCA) als britische Finanzaufsicht und zuständige Behörde, dass die Veröffentlichung der London Interbank Offered Rate, kurz Libor, in Teilen zum Ende des Jahres eingestellt wird. Damit wurde das letzte Teilstück eines Marathons eingeläutet, der einmal als Benchmarkreform in die Geschichtsbücher eingehen wird.
Die eigentliche Aufgabe des Libor ist es, die Kosten für die kurzfristige Liquiditätsbeschaffung der Banken abzubilden. Doch er wurde viel mehr, nämlich zum weltweiten Referenzzinssatz. Bevor es den Libor gab, boten lediglich die Leitzinsen eine Kennzahl für die Refinanzierungskosten der Banken. Diese waren aber auch schon damals nicht die einzige Refinanzierungsquelle der Geldhäuser. Deshalb kam man in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf die Idee, die Preisfindung für Konsortialkredite zu vereinfachen und einen einheitlichen Zins zu schaffen, der die Refinanzierungskosten aller beteiligten Banken vereint. Diesen Ansatz nahm in den 1980er Jahren die British Bankers’ Association auf, um das Kreditwachstum mithilfe eines einheitlichen Referenzzinses zu fördern. Die Idee: ein allgemeines Preisniveau für kurzfristige Geldleihegeschäfte zu ermitteln. Es war die Geburtsstunde des Libor.
Dieser fand bei den Marktteilnehmern schnell Anklang, denn als Zinsindex ermöglichte er Termingeschäfte. Diese verhalfen den Banken dazu, ihre Zinspositionen aus Finanzgeschäften, die auf den Libor referenzieren, abzusichern. Dieses Vorgehen erwies sich als so vorteilhaft, dass die Banken einen Anreiz hatten, den Libor in möglichst vielen Verträgen als Referenzzins zu verwenden. Deshalb existieren aktuell Finanzverträge auf Basis des Libor im Umfang von mehr als 320 Bill. Dollar: Kreditverträge, Wertpapiere, Derivate, Hypotheken, Handelsfinanzierungen, Bewertungsmodelle und vieles mehr greifen auf den Libor als Referenzzins zurück.
Die Systemrelevanz des Libor ist nicht von der Hand zu weisen – er ist bis in den letzten Winkel der Realwirtschaft verankert. Die Risiken für die Finanzstabilität sind gewaltig, sollte es zu einem Vertrauensverlust in den Libor kommen oder dessen Fixing ausfallen.
Fast eine Dekade ist es her, dass es zur Kernschmelze kam und der Libor-Skandal diese Risiken greifbarer werden ließ, als es den meisten Verantwortungsträgern in Politik und Wirtschaft lieb gewesen sein dürfte. Weltweit reagierten die Regierungen und Aufsichtsbehörden mit Rufen nach Alternativen zu den vom Privatsektor selbstverwalteten Referenzzinsen. Wenige Jahre nach der Finanzkrise galt die Maxime, es mit der Regulierung sehr genau zu nehmen. Die öffentliche Forderung lautete: Um das Finanzsystem zu schützen, müsse es von Grund auf reformiert werden. Neue Verordnungen besagten, dass die bestehenden Referenzzinsen in Zukunft in Transaktionen eingebettet sein oder gleich neue, risikofreie Referenzzinsen gefunden werden müssten.
Angestoßen von einem unabhängigen Ausschuss der britischen Regierung bekam der Libor deshalb von der ICE Benchmark Administration ein neues Governance-Rahmenwerk und Kontrollgremium. Außerdem wurde eine neue Fixingmethode für die Ermittlung der Zinssätze verordnet. Rund um den Erdkreis bildeten sich zudem Arbeitsgruppen, deren Aufgabe es war, Auswege aus den gewachsenen Libor-Strukturen aufzuzeigen und Referenzzinsen zu identifizieren, die in der Lage waren, den Job zu übernehmen.
Alle Arbeitsgruppen kamen zum Ergebnis, dass lediglich Tagesgeldsätze die Anforderungen an Risikofreiheit erfüllen und sich daher als Alternative anbieten. Bis zu diesem Punkt gleichen sich weltweit die Bemühungen zur Reform der Referenzzinsen. Anders als die belgische Finanzaufsicht, die den in Brüssel ansässigen Administrator der Euro Interbank Offered Rate (Euribor) beaufsichtigt, entschied aber die britische FCA, den Libor in der Folge auch tatsächlich abzuschalten.
Vor allem die zuletzt deutlich geringeren Transaktionsvolumina nimmt die FCA als Beleg, dass Libor nicht mehr repräsentativ für die Finanzierungskosten der Banken sei. Vielmehr hätten sich die Refinanzierungswege in den vergangenen Jahren verändert. Tagesgeldgeschäfte spielen mittlerweile eine deutlich größere Rolle als Termingeschäfte.
Daher ist die Kritik an der Dominanz des Libor nicht unberechtigt, lässt aber außer Acht, dass es zum Libor derzeit keine gleichwertige Alternative gibt. Der Markt für Terminzinsen auf Basis der Tagesgeldsätze steckt meist noch in den Kinderschuhen oder existiert bislang nicht. Eine Evolution der bestehenden Referenzzinsen, wie sie in der Eurozone passiert, wäre eine Alternative zur Revolution gewesen, die uns nun beim Libor erwartet.
Der Libor hat weiterhin seine Existenzberechtigung. Er bündelt Liquidität und schafft so die Voraussetzungen für eine effizientere Preisbildung. Eine Analyse der Bank for International Settlements (BIS), der Zentralbank der Zentralbanken, setzt sich mit dem Paradigmenwechsel an den Finanzierungsmärkten auseinander, der mit dem Ende des Libor einhergeht. Dort kommt man zu dem Schluss, dass sich in der „neuen Normalität“ eine Koexistenz vieler verschiedener Referenzsätze herausbildet, die unterschiedliche Zwecke und Marktbedürfnisse erfüllen. Es wird also nicht den einen Nachfolger geben, den sich die Marktteilnehmer wünschen.
Fragmentiertere Märkte
Was das bedeutet, ist nicht schwer zusammenzureimen. Die Märkte werden fragmentierter – mit all den Nachteilen für die Preistransparenz, die damit einhergehen. Wenn einer der Kritikpunkte am Libor die fehlenden Transaktionen sind, so erschließt sich einem nicht, warum die Kreditwürdigkeit der zukünftigen Termin-Referenzsätze höher sein soll, wenn sich die Liquidität auf verschiedene Einzelmärkte verteilt. Hier besteht die Gefahr, dass die Reform der Referenzzinsen Opfer ihrer eigenen Ambitionen wird.
Aber die Entscheidung ist getroffen und wird unterschiedliche Folgen haben. In Großbritannien, das in den vergangenen Jahren häufiger durch Sonderwege aufgefallen ist, ist die Umstellung der Referenzzinsen auf Tagesgeldsätze bereits weit fortgeschritten. In den USA hingegen verläuft der Fortschritt schleppend, weshalb die wichtigsten Libor-Laufzeiten eine Schonfrist von 18 Monaten bekommen haben und noch bis Ende Juni 2023 genutzt werden dürfen. Anschließend ist geplant, den Libor in synthetischer Form weiterzuführen. Damit soll sichergestellt werden, dass die völlig neu erschaffenen US-Referenzzinsen zunächst reifen können. Da kann man schon fast von Glück reden, dass der Libor in der Eurozone nie die ganz große Rolle spielte. Sein Ableben überlässt dem Euribor das Feld als alleiniger Referenzzins für Termingelder im Euroraum, und dessen Position wird hierdurch gestärkt. Für die Aktivitäten an den internationalen Geldmärkten baut die neue Diversität der Referenzzinsen aber neue Barrieren auf.
*) René Albrecht ist Analyst bei der DZBank.