Rückenwind zur Konsolidierung nutzen
Kreditwürdig
Rückenwind zur Konsolidierung nutzen
Von Andreas Scheuerle und Ulrich Kater *)
*) Ulrich Kater ist Chefvolkswirt und Ulrich Scheuerle ist Leiter Industrieländerkonjunktur und Branchenanalysen der Deka Bank.
Bei aller Aufmerksamkeit, die der starke Zinsanstieg der letzten Quartale mit sich gebracht hat, ist es in einer Ecke des Kapitalmarktes auffällig ruhig geblieben: bei den europäischen Staatsanleihen. Die Zinsabstände französischer, italienischer oder spanischer Staatsanleihen zu ihren bundesrepublikanischen Pendants haben sich nach dem Ende der Negativzinsphase nun in einem Band von 0,3 bis 0,4 Prozentpunkten über den Renditen der deutschen Staatsanleihen eingependelt – was historisch betrachtet immer noch sehr niedrig ist.
Das ist erstaunlich, denn die Schuldenqualität bei staatlichen Emittenten in der Währungsunion hat sich in den letzten Jahren nicht verbessert, sondern im Gegenteil verschlechtert. Durch die großen Regierungsprogramme zur Stabilisierung der Konjunktur in der Corona-Phase stiegen die Schuldenquoten zunächst deutlich an. Der nachfolgende Inflationsschub brachte dann etwas Linderung, allerdings keine Rückkehr zu alten Werten.
Die einfachste Definition der Tragfähigkeit der Staatsschulden ist die Fähigkeit, die Schuldenstandsquote konstant zu halten. Um dies zu diagnostizieren, verwendet man die gängige Schuldenarithmetik: Der gegenwärtige Schuldenstand entspricht demjenigen des Vorjahrs zuzüglich der fälligen Zinszahlungen abzüglich des Primärsaldos, das ist der Budgetsaldo des Staates ohne Zinszahlungen. Bei der hieraus berechneten Relation zum Bruttoinlandsprodukt tritt der sogenannte Schneeballeffekt auf: Ist der Zinssatz größer als die nominale Wachstumsrate, steigt die Staatsschuld ohne Zutun des Staates an. Dieser muss dann Primärüberschüsse erwirtschaften, um die Schuldenstandsquote konstant zu halten. Umgekehrt sinkt diese in Situationen von selbst, in denen das nominale Wachstum höher als der durchschnittliche Zins ist, sofern der Staat keinen zu stark negativen Primärsaldo erwirtschaftet.
Unter den gegenwärtigen Umständen einer erst hohen, dann allmählichen normalisierten Inflation und deutlich gestiegener Zinsen, so kommt man mit konservativen Wachstumsannahmen in den kommenden vier Jahren zu durchaus interessanten Ergebnissen.
Alle Länder der Währungsunion profitieren in diesem Zeitraum vom Schneeballeffekt, der für sich genommen die Schuldenstandsquote reduziert. Hierbei spielt die Inflation eine im historischen Vergleich außergewöhnliche Rolle. Unterstützung kommt aber auch vom realen Wachstum, das etwa in den Süd-West-Ländern recht stark ist (Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland). Hierbei dürfte teilweise das Next-Generation-EU-Programm als Wachstumstreiber bedeutsam sein. Andererseits werden diese Länder immer noch am stärksten durch die Zinsentwicklung beeinträchtigt.
Für die unterschiedliche Entwicklung der Schuldenquoten sind aber letztlich die Sparanstrengungen der Regierungen verantwortlich. Nur in fünf Volkswirtschaften trägt die staatliche Haushaltspolitik zum Rückgang des Verschuldungsgrades bei. Dazu gehören ehemalige Problemländer wie Italien, Irland, Portugal und Griechenland. Insbesondere Frankreich und Belgien (aber auch Estland, Slowakei und Malta) geben dagegen fiskalpolitisch Gas und ruinieren dadurch den möglichen Konsolidierungserfolg.
Besonders stark steigt demnach die Schuldenstandsquote im Schnitt der Jahre 2023 bis 2027 in Estland (von 18,4% im Jahr 2022 auf 31,2% 2027), in der Slowakei (von 57,8 auf 66,5%), in Frankreich (von 111,6 auf 115,0%) und in Belgien (von 105,1 auf 111,8%). Leichtere Anstiege gibt es in Luxemburg, den Niederlanden, Finnland, Lettland und Malta. In allen anderen Ländern der Eurozone sinkt der relative Schuldenstand, also auch in den früheren Problemländern Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Irland.
Problematischer Anstieg
Natürlich kann ein Anstieg der Verschuldung von einem geringen Niveau harmlos, ein Rückgang von einem sehr hohen Niveau aus trotzdem problematisch sein. Nimmt man einmal willkürlich als kritische Schwelle eine Schuldenquote von 90%, dann verdienen insbesondere Frankreich und Belgien besondere Beachtung, weil in diesen beiden Ländern der jetzt schon hohe Wert sogar weiter ansteigen wird. Darüber hinaus muss man weiterhin Spanien, Italien, Portugal und Griechenland im Auge behalten. Dort sinkt die Quote zwar, allerdings von einem zu hohen Niveau aus. Immerhin mehr als ein Drittel der Euroländer weist eine niedrige und gleichzeitig sinkende Schuldenstandsquote aus, darunter Deutschland, Österreich und Irland. Im „Mittelfeld“ gibt es weitere sieben Volkswirtschaften mit einer gegenwärtigen Schuldenstandsquote unter 90%, die aber in den kommenden Jahren weiter ansteigt.
Verfehlung des Ziels
Der zu hohe Schuldenstand ist leider zumeist eine Folge der Zielverfehlungen beim Budgetsaldo des Staates. Laut dem Kriterium im Maastricht-Vertrag darf das laufende Haushaltsdefizit nicht mehr als 3% in Relation zum nominalen Bruttoinlandsprodukt betragen. In den allermeisten „Hochschulden“-Länder die Folge einer außergewöhnlich häufigen Verfehlung des Defizitquotenziels. So übertraf etwa die Defizitquote seit der Einführung des Euro-Bargelds im Jahre 2002 in Frankreich und Griechenland das 3-Prozent-Ziel in 81% aller Jahre. In Spanien und Portugal liegt diese Misserfolgsquote bei 67%. Die einzige Ausnahme ist Italien, das aufgrund seiner chronischen Wachstumsschwäche schon viele Jahre lang zu Sparanstrengungen gezwungen war.
Aus diesem Blickwinkel ist die gegenwärtig diskutierte Reform der Schuldenregeln, wie sie in einem Vorschlag der Kommission zum Ausdruck kommt, äußerst problematisch. Nach den Vorstellungen der Kommission sollten die künftigen Schulden-Abbaupfade zwischen jedem Land und der Kommission individuell über einen vieljährigen Zeitraum ausgehandelt werden. Da die Kommission wie gerade gesehen bei der bisherigen Überwachung der Schuldendynamik keine besonders gute Figur gemacht hat, steht zu befürchten, dass Länder, in denen eine Schuldeneindämmung innenpolitisch nicht durchsetzbar ist, wohl einfach weitermachen werden mit der Erhöhung der Staatsverschuldung. Das Problem ist ein Doppeltes: Zum ersten hat die Kommission bei der Schuldenüberwachung im Rahmen ihrer Kompetenzen zu wenig Ehrgeiz an den Tag gelegt. Zum zweiten ist aber auch ihre die Durchsetzungsfähigkeit durch ihre mangelnden Kompetenzen behindert. Nach wie vor stehen keine Sanktionsmöglichkeiten gegen Schuldensünder zur Verfügung. Insofern ist eine Korrektur des abschüssigen Schuldenpfades in einigen Mitgliedsländern wohl eher eine Angelegenheit, die auf die politische Ebene der Staats- und Regierungschefs gehört. Insgesamt sollten die Mitgliedstaaten den gegenwärtigen günstigen Rückenwind nutzen, um ihre Schuldenlast abzubauen und die Weichen für einen konsequenten Konsolidierungskurs setzen. Hoffentlich kommt diese Einsicht nicht erst wieder anlässlich einer nächsten Euro-Krise.
*) Ulrich Kater ist Chefvolkswirt und Ulrich Scheuerle ist Leiter Industrieländerkonjunktur und Branchenanalysen der Deka Bank.