Schwieriges Jahr für Lateinamerika
Von Andreas Fink, Buenos Aires
Im Vorjahr hat Lateinamerika besser abgeschnitten als die meisten anderen Schwellenländer. Aber 2023 wird sich das Wachstum deutlich verlangsamen, sagen die meisten Finanzinstitute voraus – vor allem mit Blick auf den erwarteten Abschwung in den Vereinigten Staaten und Europa. Zumindest im Hinblick auf die Inflation wäre nachlassendes Wachstum eine positive Nachricht. Allerdings befürchten die meisten Experten, dass die Teuerungsraten in Lateinamerika noch bis weit in das Jahr 2024 hinein oberhalb der Zielvorgaben der meisten Zentralbanken liegen werden. Zudem könnte politischer und sozialer Druck die Staatshaushalte belasten, falls das Wachstum nicht wieder auf das Vor-Pandemie-Niveau zurückkehrt und soziale Ungleichheiten zunehmen. Seit den Aufständen des Jahres 2019 hat sich in weiten Teilen Südamerikas eine Protestkultur herausgebildet, die mit Straßenblockaden und Angriffen auf die Infrastruktur oft auch Produktionsengpässe verursacht hat, was wiederum das Wachstum zusätzlich belasten könnte.
Deutlich unter Potenzial
Hohe Inflation und steigende Finanzierungskosten dürften die Weltwirtschaft rasch abkühlen, was zu einem Nachlassen der Rohstoffpreise und der Kapitalströme in die Schwellenländer führen kann. Das Zusammenspiel dieser Faktoren wird 2023 zu einer Herausforderung für Lateinamerika werden, da sich das Wachstum deutlich verlangsamen und deutlich unter dem Potenzial der Region liegen dürfte. Für die Aktienmärkte und die Währungen der Region zeichnet sich damit ein schwieriges Jahr ab.
Vor allem die Verschärfung der finanziellen Bedingungen dürfte die kurzfristigen Aussichten der Region prägen. Nach dem Hochschnellen der Inflation nach Russlands Überfall auf die Ukraine hatten Lateinamerikas Notenbanken mit aggressiven Zinserhöhungen reagiert. Brasiliens Zentralbank steigerte den Leitzins Selic im Laufe des Jahres 2022 von 2% auf 13,75%. Das dürfte das Wachstum deutlich belasten. J.P. Morgan erwartet für Lateinamerika 2023 nur noch 0,7%, was deutlich hinter dem Wachstumspotenzial der Region liegt.
Inflation eingedämmt
Immerhin konnte die rasche Reaktion der Zentralbanken, die viel früher mit der Anhebung der Zinssätze begannen als Notenbanken anderer Weltregionen, den steigenden Preisdruck eindämmen und langfristige Inflationserwartungen relativ gut verankern. Abgesehen von Argentinien und Venezuela, die beide 2023 mit dreistelligen Teuerungsraten zu kämpfen haben werden, dürfte die Inflation in den übrigen Ländern allmählich zurückgehen.
J.P. Morgan schätzt, dass die Inflation in ganz Lateinamerika 2023 bei 4,1% liegen wird, also etwa halb so hoch wie 2022. Weil auch dieser Wert noch deutlich über den Inflationszielen der meisten Zentralbanken liegt, werden diese erheblichem politischen Druck standhalten müssen. Denn die mittlerweile fast überall amtierenden linken Regierungen werden die Notenbanker unter Druck setzen, die Zinssätze zu lockern, um Konjunktur und Konsum anzukurbeln.
Im Durchschnitt lagen die Leitzinssätze in Lateinamerika zum Jahreswechsel bei etwa 12%. J.P. Morgan erwartet für 2023 eine Senkung auf durchschnittlich 10%. Chile und Peru könnten jeweils 400 Basispunkte senken und als erste Länder wieder einstellige Leitzinsen aufweisen. In allen anderen Ländern erwartet die US-Bank bis Ende 2023 zweistellige Zinssätze.
Weil sich ein langsameres Wachstum nachteilig auf die Steuereinnahmen auswirkt, könnten die inzwischen fast überall regierenden linken Regierungen versucht sein, die Erfüllung ihrer Wahlversprechen mit neuen Schulden zu bezahlen. In Chile, Kolumbien und Brasilien traten im Vorjahr linke Präsidenten an, die im Wahlkampf eine gerechtere Wohlstandsverteilung versprochen hatten. Weil die linken Präsidenten aber auf dem gesamten Kontinent – mit Ausnahme Mexikos – keine Mehrheiten in den Parlamenten besitzen, könnten in vielen Ländern Machtkämpfe zwischen Palast und Parlament drohen, die zu belastenden politischen Krisen führen können – wie etwa in Peru, dessen 2021 gewählter Präsident Pedro Castillo nach einem Umsturzversuch im Dezember 2022 verhaftet wurde, worauf massive Unruhen im Süden des Landes ausbrachen.
Oder es könnte neue fragwürdige und teure Deals geben, wie sie die Entwicklung der Region seit Jahrzehnten prägen und belasten. Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva musste nicht weniger als 37 Minister ernennen, um all jene Parteien – jenseits seiner eigenen Linkskoalition – zu versorgen, auf deren Zustimmung er angewiesen sein wird, um gegen eine parlamentarische Rechte zu regieren – und, wie sich am vorigen Sonntag beim Sturm des Parlamentes und des Präsidentenpalastes gezeigt hat, auch gegen gewaltbereite Extremisten. Schon in den ersten Tagen der zu Neujahr angetretenen Regierung machten deren zuständige Minister teils sehr widersprüchliche Aussagen zur künftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik, was zumindest ein Teil der Investorenvertreter als Alarmzeichen wertete.
Wenn die lateinamerikanischen Zentralbanken ihre Geldpolitik lockern sollten, während die US-Notenbank die Zinssätze anhebt, dürften die Währungen der Region gegenüber dem Dollar verlieren. Besonders abwertungsgefährdet sind der argentinische und der kolumbianische Peso, während die Währungen von Chile, Peru, Brasilien und Mexiko stabiler sind.
Mexikos Entwicklung orientiert sich traditionell an seinem wichtigsten Handelspartner, den Vereinigten Staaten. Weil dieser auf eine Rezession zusteuert, halten die meisten Voraussagen eine Wiederholung des überraschend deutlichen Wachstums von 2022 für unwahrscheinlich. Andererseits hat Mexiko einen besonderen Trumpf: die Bestrebungen vieler US-Konzerne, ihre Fertigung aus Asien auf den amerikanischen Kontinent zurückzuverlegen. Jüngsten Schätzungen der Interamerikanischen Entwicklungsbank zufolge könnten die Gesamtexporte Lateinamerikas durch das sogenannte „Nearshoring“ kurz- und mittelfristig um 78 Mrd. Dollar pro Jahr steigen. Dabei würde Mexiko die bei weitem größten Zuwächse verzeichnen, dennoch dürften alle lateinamerikanischen Länder profitieren. Hierbei handelt es sich jedoch eher um einen langfristigen Trend, der sich in den nächsten zehn Jahren ebenso positiv entwickeln dürfte wie der Ausbau der Produktion von erneuerbaren Energien.