Unternehmen kehren dem Schuldschein den Rücken
Unternehmen kehren dem Schuldschein den Rücken
Volumen fällt im dritten Quartal um 37 Prozent – Bonität nimmt leicht ab – Nachhaltigkeit wird zur Marketing-Komponente
Unternehmen setzen immer weniger auf den Schuldschein, so dass das Volumen am Markt signifikante Rückgänge erfährt. Auch die Bonität der emittierenden Firmen geht etwas zurück. Und Nachhaltigkeit scheint am Schuldscheinmarkt nur zur Marketingkomponente zu werden, so die Ergebnisse einer Analyse.
kjo Frankfurt
Am deutschen Schuldscheinmarkt ist es im abgelaufenen dritten Quartal zu einem Rückgang des Transaktionsvolumens gekommen. So wurde mit nur 3,5 Mrd. Euro sowohl gegenüber den Vorquartalen als auch gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum (−37%) ein signifikantes Minus verzeichnet. Damit konnte nicht an das Rekordjahr 2022 angeknüpft werden, als das bislang höchste Volumen einer Periode von fast 32 Mrd. Euro platziert worden war. Dies geht aus einer Studie von Capmarcon hervor, die der Börsen-Zeitung vorab vorliegt. Capmarcon ist eine auf Nachhaltigkeitsmanagement und Unternehmensfinanzierung spezialisierte Beratungsgesellschaft. Sie entwickelt Nachhaltigkeitsziele und -strategien, erstellt Rahmenwerke und unterstützt bei ESG-Ratings.
Individuelle Gestaltung
„Zudem konkurrierte das Schuldscheindarlehen hinsichtlich der Konditionen wieder stärker mit der Anleihe und dem klassischen Bankkredit als Instrument der Unternehmensfinanzierung. Eine Eintrübung des Marktumfelds drückte überdies auf die Stimmung“, halten die Experten von Capmarcon in ihrer Analyse fest. Schuldscheindarlehen (SSD) oder kurz Schuldscheine bewegen sich als Finanzierungsinstrument – in erster Linie für Unternehmen – zwischen dem konventionellen Bankkredit und der Anleihe. Der Vorteil eines SSD besteht in der im Vergleich zur Anleihe individuelleren Ausgestaltung des Instruments hinsichtlich Laufzeit, Volumina etc. So lassen sich auch kleinere Darlehensvolumina und spezielle Fristigkeiten sehr viel leichter im direkten Austausch mit Investoren realisieren.
In den ersten neun Monaten dieses Jahres seien nur noch 16,2 Mrd. Euro an neuen Darlehen arrangiert worden im Vergleich mit 21,8 Mrd. Euro in der Vorjahresperiode. „Der Rückgang des Primärmarktvolumens um etwa 26% war ähnlich hoch wie im Jahr 2020, dem Beginn der Corona-Pandemie, als ein Minus von 37% zu verzeichnen war“, heißt es. Auch seien – mit zwei Ausnahmen im ersten und zweiten Quartal – im bisherigen Jahresverlauf keine Begebungen mit mehr als 500 Mill. Euro zu sehen gewesen. Das durchschnittliche Volumen pro Transaktion habe bei 215 Mill. Euro nach 220 Mill. Euro in der Vorjahresperiode gelegen.
Das ausstehende Schuldscheinvolumen am Jahresende 2022 lag den Angaben zufolge bei 159 Mrd. Euro. Mit Tilgungen in den ersten neun Monaten 2023 in Höhe von 16,1 Mrd. Euro habe sich das Ende September 2023 ausstehende Volumen nur geringfügig auf 159,1 Mrd. Euro erhöht. Der im Gesamtjahr zu tilgende Betrag summiere sich auf etwa 22,5 Mrd. Euro.
„Im gegenwärtigen Marktumfeld bieten Sektoren mit gleichmäßigen Kapitalflüssen und stabilen Bilanzstrukturen für Investoren eine erhöhte Attraktivität. Aus diesem Grunde ist der Anteil des Schuldscheinarrangements mit Unternehmen des produzierenden und verarbeitenden Gewerbes stark von 43% auf 59% gestiegen. Auch die relative Bedeutung von Energieversorgungsunternehmen ging nach oben“, halten die Experten hierzu fest. Der Logistiksektor profitiere aktuell von einer Sonderkonjunktur, während der Schuldschein in weiteren Sektoren bei der Finanzierung an Bedeutung verloren habe.
In konjunkturell weniger positiven Phasen und mit zunehmender Unsicherheit über politische Entscheidungen – vor allem im Bereich der Energieversorgung – gehe regelmäßig das Arrangement von Darlehen für ausländische Adressen zurück, wenngleich im dritten Quartal auch seitens deutscher Unternehmen deutlich weniger begeben worden sei. Hinzugekommen sei der Umstrukturierungsfall eines französischen Schuldscheins. In diesem Jahr ist insgesamt noch kein Unternehmen aus Frankreich am Markt zu sehen gewesen.
Industrie führend
In den ersten drei Quartalen 2023 gingen laut Capmarcon Schuldscheindarlehen nach Deutschland, Österreich, Dänemark, in die Niederlande und die Schweiz. Es folgten Tschechien (2%), Schweden (1,9%), Italien (1,5%) und Belgien (0,8%). Die ausländischen Unternehmen, für die bislang Schuldscheindarlehen über 4,7 Mrd. Euro arrangiert wurden, stammten aus dem Industriebereich (53%), dem Energieversorgungssektor (17%), dem Dienstleistungsgewerbe (17%), dem Handel (7%) und Baugeschäft (6%).
Die Attraktivität von umweltbezogenen Schuldscheinen schwindet offenbar. Nach dem starken Anstieg des grünen und umweltorientierten („linked“) Schuldscheinvolumens im Jahr 2022 habe sich diese Entwicklung in der laufenden Periode nicht fortgesetzt. „Investoren achten aktuell wieder stärker auf Fundamentaldaten als auf mitunter etwas vage Nachhaltigkeitsdaten. So ging der Anteil des Volumens mit ESG-Komponente von 37% im Neunmonatszeitraum 2022 auf nunmehr 29% in diesem Jahr zurück“, so die Experten. Die Hoffnung mancher Marktteilnehmer, Green werde beim Schuldschein schon in naher Zukunft das neue Normal, sei nicht erfüllt worden. „Viele Unternehmen mussten feststellen, dass Nachhaltigkeit und deren Spiegelung in Finanzierungen keine kostenlose Dreingabe sind, sondern einen gewissen Aufwand erfordern.“
In den ersten neun Monaten des Jahres 2023 seien mehrere Erstnutzer von Schuldscheinen mit sehr guter Bonität an den Markt gekommen, darunter vor allem kommunale Versorgungsunternehmen. Trotzdem sei die durchschnittliche Bonität der schuldscheinbegebenden Unternehmen insgesamt – gewichtet mit dem jeweiligen Darlehensvolumen – von Januar bis September leicht zurückgegangen, sei aber mit „BBB-“ im Investment-Grade-Bereich geblieben. Veröffentlicht wurden die Transaktionen bei 65% des arrangierten Volumens gegenüber 62% im Jahr zuvor.
Im Jahresverlauf 2022 seien viele Unternehmen von der Anleihe auf das Schuldscheindarlehen ausgewichen, weil hier die Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank nicht zu einem so starken Anstieg der Risikoprämien geführt hatten wie bei den Anleihen. „Dieser Effekt ist nun in diesem Jahr ausgelaufen. Nichtsdestotrotz sollte mit Blick auf die aktuellen Arrangements das Volumen neuer Schuldscheine im vierten Quartal ein ähnliches Niveau erreichen wie im Jahr zuvor. In der Folge würde dann im Jahr 2023 ein Gesamtbetrag in Höhe von 22 bis 23 Mrd. Euro valutiert werden können“, so die Prognose bei Capmarcon.
Bonus entfällt
Bislang hätten Investoren noch einen Bonus auf nachhaltige Schuldscheinfinanzierungen akzeptiert, das heißt, sie gewährten einen Abschlag auf die Zinszahlung bei entsprechender Mittelverwendung oder bei Erreichen bestimmter ESG-Ziele. „Doch diese Gestaltung entfällt zunehmend, so dass Nachhaltigkeit auch beim Schuldschein immer mehr zur Marketingkomponente wird denn zum echten Konditionsbestandteil.“ In diesen Fällen sei die nahezu aufwandfreie Handhabung wichtig, weshalb – wenn ESG – mit Vorliebe die einfach zu arrangierenden und problemlos zu erfüllenden „ESG-Linked“-Strukturen gewählt würden.
Im Rahmen dessen seien gegenwärtig sehr häufig gewählte Zielwert-Kombinationen: die Emission von Kohlendioxid (CO2); die Zahl der Arbeitsunfälle in Relation zur Mitarbeiterzahl bzw. Sollarbeitszeit; die Quoten von weiblichen Mitarbeitern im Unternehmen bzw. in Führungspositionen. Alternativ wählen Unternehmen als Bezugsgröße für die Nachhaltigkeitsorientierung auch das Ergebnis und die Veränderung von ESG-Ratings.