Trotz Krise im Wachstumsmodus
Von Lisa Schmelzer, Frankfurt
Die Airline-Branche hat Investoren in den vergangenen eineinhalb Jahren keine Freude gemacht. Die Reisebeschränkungen infolge der Coronavirus-Pandemie brachten den Flugverkehr im Frühjahr 2020 weltweit fast zum Erliegen, von einer Normalisierung kann bis heute nicht die Rede sein. Weil die Fluglinien ihre Fixkosten nur in Maßen zurückfahren konnten, verbrannten alle sehr schnell sehr viel Geld. Einige gerieten dadurch binnen Wochen in große Not, mancher verschwand von der Bildfläche, mancher – wie die Lufthansa – musste mit Staatshilfe gerettet werden.
Im Branchenvergleich relativ gut da standen viele Billigfluggesellschaften. Sie profitierten in der Krise von ihren schlanken Kostenstrukturen mit einem hohen Anteil variabler Ausgabepositionen und verfügten häufig über mehr Liquidität als die großen Netzwerk-Konkurrenten. Während Letztere in weiten Teilen vom Langstreckengeschäft abhängen, das nach wie vor weit vom Normalzustand entfernt ist, operieren Low-Cost-Carrier auf der Kurz- und Mittelstrecke, und dort geht bereits wieder deutlich mehr. Zudem legen die Billigheimer den Fokus schon immer auf das touristische Geschäft, und diesem Segment wird eine deutlich schnellere Erholung vorausgesagt als dem Geschäftsreisendenverkehr.
Doch auch unter den Low-Cost-Anbietern gibt es durchaus Unterschiede in der Bewältigung der Coronakrise sowie in den prognostizierten Erfolgsaussichten im beginnenden „Restart“. Während jahrelang die irische Ryanair Investoren mit starkem Wachstum und regelmäßigen Gewinnsprüngen überzeugt hat, fehlt vielen Anlegern beim europäischen Marktführer mittlerweile die Wachstumsfantasie. Zum Liebling vieler Investoren mutiert ist daher die ungarische Wizz Air, die im noch wenig gesättigten osteuropäischen Markt ein starkes Standbein hat und die sich für die nächsten Jahre deutliches Wachstum auf die Fahnen schreibt.
Daniel Roeska, Airline-Experte beim Analysehaus Bernstein, ist davon überzeugt, dass sich das Unternehmen zur „Gelddruckmaschine“ entwickeln könnte. Wizz Air sei die letzte große Wachstumsstory in der europäischen Luftfahrt. Das Unternehmen habe ein überdurchschnittliches Wachstum im Vergleich zu den Wettbewerbern und ein „phänomenal effizientes Low-Cost-Betriebsmodell“. Laut Roeska steht ein hohes Umsatzwachstum in der Regel für die stärkste Aktionärsrendite, und nur zwei notierte Fluggesellschaften in Europa „haben in den nächsten fünf Jahren ein signifikantes Kapazitätswachstum vor sich: Ryanair und Wizz Air“.
Erwartet wird, dass beide Unternehmen ihre Sitzplatzkapazitäten mittelfristig um 40 bis 50 Millionen gegenüber dem Vorkrisenniveau erhöhen werden. Damit fällt allerdings das Expansionstempo bei Wizzair deutlich höher aus, da die Ungarn von einer viel niedrigeren Basis kommen – Ryanair ist mit rund 150 Millionen Passagieren (2019) fast viermal so groß wie Wizz Air (40 Millionen). Die Passagierzahlen von Wizz Air könnten sich bis zum Geschäftsjahr 2025 ungefähr verdoppeln, schätzt Bernstein.
Auch bei den Stückkosten, immer im Fokus der Airlines und das insbesondere im Low-Cost-Segment, braucht sich Wizz Air im Vergleich mit Ryanair nicht zu verstecken. Direkte Vergleiche sind schwierig, da mit unterschiedlichen Fluggeräten unterschiedliche Verbindungen angeboten werden. Allerdings ist Wizz Air mit ihrer Flotte aus Airbus A321neo mit einem kostengünstigeren Flieger unterwegs als Ryanair, die auf Boeing-737-Max-Maschinen setzt. Berenberg schätzt, dass neu ausgehandelte Leasingkontrakte Wizz Air je Flugzeug Einsparungen von 1,5 Mill. Euro bringen. Allerdings verweist Bernstein auch auf Risiken des Voll-Leasing-Konstruktes. In Krisen mit jede Menge geparktem Fluggerät stehen in der Regel die Unternehmen besser da, die viele Flieger im Eigenbesitz haben. Bei dem hohen Expansionstempo sind allerdings solcherlei Flugzeugkäufe kaum darstellbar. Unterm Strich kommt Bernstein zu dem Ergebnis, dass Wizz Air „bei den Stückkosten mindestens mit Ryanair mithalten“ kann und wahrscheinlich sogar einen kleinen Vorteil gegenüber ihrem größeren Rivalen hat.
Auf der Habenseite verbuchen kann Wizz Air, 2004 gegründet von der Investorengruppe Indigo und 2015 an der Börse gelandet, ihren Kundenstamm. Die Kernkundengruppe sind sogenannte „VFR“-Reisende (Visiting Friends and Family), diese gelten als die am wenigsten krisenanfälligen Passagiere.
Obwohl der osteuropäische Markt schon erfreuliche Wachstumsperspektiven bereithält, wagt Wizz Air auch den Gang auf andere Märkte, etwa mit dem Ableger in Abu Dhabi. Das schmeckt Investoren nicht immer, die bei zu viel Experimentierfreude – siehe das Langstrecken-Experiment von Norwegian – um ihr Investment bangen. Allerdings hat das Wizz-Air-Management bereits bewiesen, dass es nicht lange fackelt, wenn sich eine neu aufgemachte Basis als nicht profitabel erweist. Schließungen sind bei Wizz Air ähnlich wie bei Ryanair an der Tagesordnung.
Die sich ausbreitende Delta-Variante des Coronavirus könnte das Fluggeschäft in den kommenden Wochen und Monaten erneut belasten, dagegen wäre auch Wizz Air nicht immun. Ebenso wie die Wettbewerber sind die Ungarn zudem zuletzt tief in den roten Zahlen gelandet, im Ende März abgelaufenen Geschäftsjahr wurde ein Nettoverlust von 482 Mill. Euro verbucht, nach +345 Mill. Euro im Vorjahr.
Berenberg sieht Wizz Air nach einem geschätzten Nettoverlust von 77 Mill. Euro im laufenden Jahr im nächsten Geschäftsjahr wieder in der Gewinnzone. Diese Einschätzung teilt auch Bernstein, die das Kursziel bei 6750 Pence verortet. Sein 52-Wochen-Hoch hatte das Papier mit 5595 Pence am 12. März 2021 erreicht. Bei den Einschätzungen zur Aktienkursentwicklung herrschte zuletzt allgemein Optimismus vor. Für Berenberg etwa ist das Papier, das am Donnerstag in London bei 4700 Pence notierte, ein „Buy“ mit einem Kursziel von 5500 Pence. Deutsche Bank rät ebenfalls zum Kauf und vergibt sogar ein Kursziel von 6000 Pence. Für Barclays und J.P. Morgan bekommt die Wizz-Air-Aktie ein „Overweight“. Zum Verkauf rät Concorde Research, die auf den hohen Ölpreis und zunehmende Umweltauflagen für Airlines verweist. Das Analysehaus verweist aber auch auf die Liquidität von 1,6 Mrd. Euro – mit diesem Polster könnte Wizz Air „zwei Jahre ohne Fliegen überleben“.