Türkische Lira fällt auf Rekordtief
Nach einer Phase der Ruhe ist die türkische Währung in dieser Woche eingebrochen. Gegenüber Dollar und Euro wurden neue Tiefststände markiert. Sinkende Devisenreserven, eine hohe Auslandsverschuldung und eine kontraproduktive Politik der Zentralbank deuten auf eine weitere Abwertung hin. Von Wolf Brandes, FrankfurtDie Nachrichtenlage zur Türkei hatte sich in den vergangenen Tagen etwas aufgehellt. So hat die Bundesregierung die Reisewarnung für vier Küstenprovinzen am Dienstag aufgehoben, aus Russland waren Anfang August die ersten Touristen gekommen. Am 23. Juli hatte zudem die türkische Zentralbank ihre Inflationsprognose etwas realistischer formuliert und erstmals auf weitere Zinssenkungen verzichtet.Diese positiven Signale verfingen am Markt nicht. Nachdem der Kurs sich fast den ganzen Juni kaum bewegt hatte, rutschte die türkische Währung in dieser Woche wieder ab und fiel auf ein Rekordtief zum Dollar von 7,28 Lira. Damit hat sie in diesem Jahr 18 % an Wert eingebüßt. Ähnlich sieht es im Wechselkurs zum Euro aus. Auch der Eurokurs legte zur Lira deutlich zu und erreichte bei 8,67 Lira für einen Euro einen neuen Höchststand. Schwacher Dollar hilft nichtSchwächelnde Landeswährung, schmelzende Devisenvorräte, wegbleibende Touristen: Die Türkei kämpft derzeit an mehrere Fronten. “Seit Kurzem steht die Lira wieder vermehrt unter Druck, obwohl die gefallenen Covid-19-Infektionszahlen, eine leichte Belebung des Tourismus und der schwache Dollar eigentlich für die Türkei sprechen”, wundert sich Sebastian Kahlfeld, Währungs- und Schwellenländerexperte der Fondsgesellschaft DWS. Von den Touristen gibt es jedoch kaum Unterstützung für die türkische Währung. So ist im ersten Halbjahr 2020 die Zahl ausländischer Besucher um 75 % auf 4,5 Millionen eingebrochen. Die von der Nachrichtenagentur Reuters befragten Ökonomen erwarten auch deshalb, dass das türkische BIP in diesem Jahr um mehr als 4 % fallen wird. Der zusammengebrochene Tourismus werde zu Dollarknappheit führen, “langfristige ausländische Investitionen wurden im Wesentlichen auf Eis gelegt, und die Einheimischen haben begonnen, Gold in einem Tempo anzuhäufen, wie wir es noch nie zuvor gesehen haben”, fasst Christian Wietoska vom Deutsche Bank Research in London die Lage zusammen. Erholung verpasstIm Vergleich zu anderen Schwellenländerwährungen sieht die Lira ebenfalls schlecht aus – und dies in einem schwachen Dollar-Umfeld. “Viele Währungen gerade aus Mittel- und Osteuropa handeln eher stärker gegenüber dem Euro in den letzten Wochen”, hat Gunter Deuber, Abteilungsleiter Volkswirtschaft der Raiffeisen Bank International (RBI) beobachtet. Beispielsweise haben sich Rubel und tschechische Krone zuletzt deutlich erholt (siehe Chart).Die anhaltende Schwäche der türkischen Lira konnte durch die Stützungsmaßnahmen der Notenbank nicht dauerhaft gestoppt werden. Die Befürchtung steht im Raum, dass diese Politik nicht unbegrenzt in den kommenden Monaten fortgesetzt werden könnte.Einer der Knackpunkte sind die Devisenreserven. Schätzungsweise 110 Mrd. Dollar wurden nach Berechnungen von Händlern für die Stützung der Lira ausgegeben. Die Bruttoreserven sind dementsprechend von 81 auf 51 Mrd. Dollar gesunken (siehe Grafik). Neben den Devisenreserven macht das Missverhältnis zwischen Inflation und Zinsen den Marktteilnehmern Sorgen. Mit den letzten Leitzinssenkungen war die Realverzinsung der türkischen Lira ins Minus gerutscht. “Sie ist damit aktuell eine der geringsten unter den Emerging Markets”, so Thomas Meißner Abteilungsleiter Research der LBBW. Notenbank macht PauseImmerhin hat die Zentralbank die Zinssenkungsspirale mittlerweile durchbrochen. Auf der letzten Sitzung der Notenbank wurde entschieden, den Leitzinssatz unverändert zu belassen. Daraufhin konnte sich die Währung zunächst etwas stabilisieren. In den zwölf Monaten zuvor und seit dem Amtsantritt des Notenbankpräsidenten war der Leitzinssatz von 24 % auf heute 8,25 % gedrittelt worden, während die Inflationsrate zuletzt bei 11,8 % lag. Bemerkenswert ist, dass die Notenbank ihre unrealistische Inflationsprognose für Ende 2020 auf immerhin 8,9 % erhöhte nach zuvor 7,4 %. Marktbeobachter halten aber auch das für viel zu niedrig.Erheblicher Druck lastet auf dem Land durch die Auslandsverschuldung, deren Rückzahlung sich durch den Schwächeanfall der Lira immer weiter verteuert. Die Ratingagentur S&P vermutet, dass mehr als ein Drittel aller Kredite in Fremdwährungen aufgenommen wurden. Der Außenfinanzierungsbedarf wird auf rund 26 % des Bruttoinlandsprodukts geschätzt, was angesichts des Mangels an Deviseneinnahmen erheblich ist. “Die Türkei hat in diesem Jahr einen hohen Rollover-Bedarf an ausländischem Kapital in Höhe von 175 Mrd. Dollar. Die 11 Mrd. Dollar an freien Devisenreserven sind dagegen lächerlich”, so die Analysten der Commerzbank. Daher sei die Prolongation der Schulden auf eine positive Stimmung an den Finanzmärkten angewiesen.Doch es gibt Lichtblicke. Da in den letzten Jahren sich internationale Investoren mehr und mehr aus dem türkischen Markt verabschiedet haben, kommt aus dieser Richtung kaum mehr Druck auf den Finanzmarkt. Auch der Anteil von ausländischen Anleger an börsengelisteten Unternehmen ist auf ein Tief gefallen. Positiv wird am Markt registriert, dass die türkische Notenbank den Leitzins nicht weiter gesenkt hat. Damit konnte die Bank einige Marktbeobachter überraschen.Und weil die Türkei viele Waren exportiert, ist eine schwache Währung nicht nur negativ zu sehen. “Auch in Anbetracht des Aspekts, das in Zukunft Europa vielleicht mehr Güter in näher gelegenen Ländern produzieren lassen möchte als in der Vergangenheit”, meint DWS-Mann Kahlfeld im Hinblick auf die möglichen Folgen der Coronakrise.Unterm Strich erwarten die Experten allerdings, dass die Lira weiter abwerten wird. Prognosen wurden eiligst nach unten korrigiert. Die LBBW beispielsweise hat die Euro-Prognose zum Jahresende 2020 gerade auf 8,80 Lira angepasst. Unausgewogene Politik”Das Nichtvorhandensein von Stützungsankern und weiteren Swaplinien zeigt, dass die politischen Eliten in der Türkei wohl weiterhin ihren wirtschaftspolitischen Spielraum und/oder auch ihre geopolitische Bedeutung überschätzen und dies ist ein Muster”, sagt Deuber. Ähnlich die Einschätzung von Nikko Asset Management: Das Land habe die Grenzen einer unausgewogenen Politik ausgereizt. Die Experten merken allerdings an, dass “eine scheinbar nicht nachhaltige Politik derzeit viel länger aufrechterhalten werden kann, als man sich normalerweise vorstellen würde”.