GASTBEITRAG

Überreaktion auf Ölmarktdynamik könnte Abschwung auslösen

Börsen-Zeitung, 8.3.2016 Herrscht auf Märkten unangebrachter Optimismus, birgt dies oft das Risiko einer schmerzhaften Abrechnung. Doch unbegründeter Pessimismus kann ebenso schädlich sein wie ein Übermaß an Zuversicht. Die aktuelle Marktsituation...

Überreaktion auf Ölmarktdynamik könnte Abschwung auslösen

Herrscht auf Märkten unangebrachter Optimismus, birgt dies oft das Risiko einer schmerzhaften Abrechnung. Doch unbegründeter Pessimismus kann ebenso schädlich sein wie ein Übermaß an Zuversicht. Die aktuelle Marktsituation birgt genau dieses Risiko: Die Besorgnis über den fallenden Ölpreis droht schwerer zu wiegen als die zahlreichen positiven Indikatoren in den meisten anderen Anlageklassen.Die Risiken des Pessimismus sind besonders hoch, wenn sich ein Markt in einer Hochphase befindet. Anleger suchen im Verlauf des Konjunkturzyklus nach Anzeichen für eine Trendumkehr, so dass sie Gewinne genau dann mitnehmen können, wenn die Kurse ihre Höchststände gerade überschritten haben. Aktuell nutzen viele den rückläufigen Ölpreis als stellvertretenden Frühindikator für andere Anlagen. Zwei FaktorenDies ist nachvollziehbar, bis man bedenkt, dass von den beiden wichtigsten Einflussfaktoren des Ölpreises, der von einer wachsenden Weltwirtschaft getragenen Nachfrage und dem relativ zu dieser Nachfrage verfügbaren Angebot, Letzterer für die sinkenden Preise verantwortlich ist. Die Schieferölförderung in den USA hat eine langfristige Verschiebung der Angebotsdynamik ausgelöst. Zudem hat der Iran seit kurzem wieder Zugang zu westlichen Abnehmern und weder Russland noch Saudi-Arabien waren bislang von den Vorteilen einer Drosselung der Fördermengen zu überzeugen. Schätzungen der Internationalen Energieagentur zufolge ist die Ölnachfrage im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr tatsächlich um fast 2 % gestiegen, was die Auffassung widerlegt, die Preise spiegelten einen globalen Konjunkturrückgang wider. Dies macht die derzeitige alleinige Fixierung auf den Ölpreis so schwer nachvollziehbar. Die Ausfallquoten an den Anleihemärkten liegen auf historisch niedrigem Niveau und werden im weiteren Verlauf des Zyklus allmählich ansteigen. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig auf kurze Sicht geschehen. Die Geldpolitik ist weiter akkommodierend, Gewinne und der Arbeitsmarkt entwickeln sich solide und die Finanzlage der Privathaushalte ist gut. All diese Faktoren deuten im Grunde auf moderates Wachstum hin. Eine überzogen negative Stimmung könnte Anleger aber dazu veranlassen, die Positivseite zu ignorieren.Bei Unternehmensanleihen gibt es Spielraum für leichte Gewinne, da die Märkte die Angst vor einer Rezession zu hoch bewerten. Insbesondere bei europäischen Unternehmensanleihen bieten sich Chancen: Im Gegensatz zu den USA befindet sich Europa noch in der Expansionsphase seines Zyklus. Der Energiesektor fällt hier kaum ins Gewicht, da er lediglich 1 % des einheimischen High-Yield-Marktes ausmacht. Zwar liegt die Inflation in Europa nach wie vor deutlich unter dem Zielwert, doch dank stimulierender Maßnahmen der Europäischen Zentralbank sowie staatlicher Ausgaben kann sich das Wachstum in der Eurozone behaupten. Auch wenn die europäischen Exporte unter der sinkenden Nachfrage aus China leiden werden, sollten diese Auswirkungen nicht überschätzt werden.Das große Risiko besteht darin, dass die übermäßige Konzentration auf den Ölmarkt zu einer anhaltenden Ansteckungsgefahr führt. Belege hierfür sind bereits sichtbar: die Verkaufswelle bei High-Yield-Anleihen Ende 2015, die im Falle von Energieunternehmen gerechtfertigt war, griff auf andere Sektoren über. Die Kreditbedingungen haben sich seitdem stetig verschärft. Dies könnte bald zu einer langfristigen Kontraktion führen, da Anleger, Banken und wirtschaftliche Entscheidungsträger gleichermaßen die Schotten dicht machen.Die Finanzmärkte sollten ein Spiegel der Realwirtschaft sein und nicht umgekehrt. Die Erfahrung hat uns aber gelehrt, dass das Marktverhalten auf eine selbsterfüllende Prophezeiung hinauslaufen kann: Da die Preise sinken, glauben Anleger eine bedeutsame Entwicklung zu erkennen und reduzieren ihre Engagements. Das Konjunkturklima verschlechtert sich weiter und es wird für alle Beteiligten schwieriger, gute Argumente für Investitionen zu präsentieren. Folgen für RealwirtschaftNormalerweise sollten die unzähligen Einflussfaktoren, welche die Unternehmensrentabilität bestimmen, ihren Ausdruck in den Kursen finden. Doch angesichts der Abhängigkeit der Unternehmen von Investitionskapital ist es möglich, dass Marktstörungen direkte Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben.Wenn dieser Fall eintritt, hat eine Verschärfung der Finanzierungsbedingungen – wie beispielsweise ein Kursrückgang auf den Aktienmärkten oder ein Anstieg der Fremdkapitalkosten – in Verbindung mit weiteren Abwärtsindikatoren wie einem steigenden Goldpreis direkte Auswirkungen auf das verfügbare Investitionskapital. Niedrige AusfallratenJeder umsichtige Marktbeobachter würde zustimmen, dass eine Verschlechterung der Bedingungen mittelfristig wahrscheinlich ist. Die erwähnten Ausfallraten auf den Anleihemärkten bewegen sich seit langem auf einem ungewöhnlich niedrigen Niveau und nähern sich einem Punkt, an dem sie ansteigen werden, insbesondere im Energiesektor.Das allein rechtfertigt jedoch keine Panikreaktion: Sollte die Zahl der Zahlungsausfälle zunehmen, dürfte ein geordneter Markt diese absorbieren können. Eine höhere Run Rate würde somit eine Rückkehr zu typischen Marktumständen darstellen und wäre kein Zeichen eines beginnenden Konjunkturabschwungs. Den Interessen eines geordneten Marktes ist durch die unlogische Fixierung auf einen einzelnen Einflussfaktor nicht gedient.Wir setzen unsere Zuversicht auf die Besonnenheit der Anleger, so dass eine vorzeitige Trendumkehr abgewendet werden kann. Diese sollten die Ölpreisentwicklung nicht überbewerten und die Fundamentaldaten im Blick haben, statt sich auf ein einziges angebotsgesteuertes Gut zu fokussieren.—-Andrew Wilson, CEO für EMEA und Co-Head des Global Fixed Income und Liquidity Management Teams bei Goldman Sachs Asset Management