„Unsicherheit, wie es sie nie gegeben hat“
Dieter Kuckelkorn.
Herr van der Welle, Robeco hat drei Szenarien entwickelt, wie sich die Welt und die Finanzmärkte in den kommenden fünf Jahren entwickeln könnten. Neben einem Basisszenario gibt es noch eine deutlich positivere und eine deutlich negativere Prognose. Welche Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten ordnen Sie den Szenarien zu?
Nun, wir haben in diesem Jahr ausdrücklich darauf verzichtet, Wahrscheinlichkeiten für die drei Szenarien anzugeben. Das liegt daran, dass wir gegenwärtig makroökonomische Unsicherheiten in einem Ausmaß erleben, wie es sie noch nie gegeben hat, mehr noch als während der Finanzkrise von 2007/08. Anleger sind daher gut beraten, offen zu sein für das Eintreten aller drei Szenarien. Natürlich legen wir einen Schwerpunkt auf das Basisszenario, das wir letztlich für das wahrscheinlichste halten, aber es ist derzeit sehr schwierig, exakte Wahrscheinlichkeiten anzugeben.
Aber Sie halten das negativere und das positivere Szenario nicht für sehr unwahrscheinlich?
Nein, keineswegs, es handelt sich nicht um lediglich entfernte Möglichkeiten, auch wenn wir ihnen natürlich nicht die gleiche Wahrscheinlichkeit zurechnen wie dem Basisszenario. Es gibt erhebliche Gefahren, aber auch die Chance, dass die nächsten fünf Jahre positiver verlaufen, als gemäß dem Basisszenario zu erwarten wäre.
Sie geben prognostizierte Renditen für einzelne Assetklassen an. Unterscheiden sich diese für die drei Szenarien deutlich?
Oh ja, sie unterscheiden sich in der Tat deutlich. Gemäß unserem Szenario „Silver Twenties“ halten wir eine fünfjährige annualisierte Rendite am Aktienmarkt von 10,5% für möglich, also 6 Prozentpunkte über unserem Basisszenario. Sollte das Szenario „Stag Twenties“ Realität werden, ist eine Rendite am Aktienmarkt von negativen 1,5% zu befürchten.
Die Frage, wie sich die Pandemie weiterentwickelt, ist Ihrer Überzeugung nach ein entscheidender Faktor in den Szenarien für die kommenden fünf Jahre. Wo liegen mit Blick auf die Pandemie die größten Risiken für die Finanzmärkte?
Die Risiken sind sicherlich unterschiedlich für verschiedene Länder und Weltregionen. China, das den größten Beitrag zum weltweiten Wirtschaftswachstum liefert, hat sich dafür entschieden, Covid-19 vollständig zu bekämpfen. Allerdings sind die Impfquoten in China noch niedriger als in vielen hoch entwickelten Ländern, was das Reich der Mitte anfällig macht für neue Ausbrüche der Pandemie, zumal der Virus ja auch eine gewisse Saisonalität aufweist. Aber auch in den hoch entwickelten Ländern besteht die Gefahr, dass sich die nun kommenden zusätzlichen Impfungen bei neuen Mutationen als weniger effektiv erweisen könnten. Der Virus hat gegenüber der Entwicklung von Impfstoffen einen Vorsprung, was Gefahren für die weltweite Konjunktur, vor allem für den Dienstleistungssektor und den privaten Konsum, beinhaltet. Bei neuen Ausbrüchen dürften die Konsumausgaben wieder heruntergefahren werden und die Sparquoten gehen wieder hoch.
Bereits in Ihrem Basisszenario gehen Sie von erheblichem technischem Fortschritt, steigender Produktivität und zunehmenden Investitionen aus. Welche Sektoren würden davon in besonderem Maße profitieren?
Dies könnte ein breit angelegter Trend sein, von dem viele Sektoren profitieren. Zu nennen wären insbesondere Biotechnologie und der Gesundheitssektor, wo wir einen sprunghaften Anstieg der Produktivität sehen könnten. Die außerordentlich schnelle Entwicklung der Coronavirus-Impfstoffe ist ein gutes Beispiel dafür. Unter normalen Umständen hätte eine solche Entwicklung Jahre benötigt. Ähnliches könnten wir in denjenigen Sektoren sehen, die besonders von der grünen Transition der Volkswirtschaften hin zu weniger CO2-Emissionen profitieren.
Die globale Erwärmung spielt in allen drei Szenarien eine bedeutende Rolle. Ihr Basisszenario haben sie nicht ohne Grund die „Roasting Twenties“ genannt. Glauben Sie, dass die Menschheit das Problem lösen und die CO2-Emissionen unter Kontrolle bekommen wird?
Wir sehen das Glas als halb voll an und nicht als halb leer. Wir waren bereits zuversichtlich, was die Entwicklung entsprechender Technologien betrifft, als wir vor elf Jahren mit diesen Prognosen begonnen haben. Insofern erwarten wir, dass es auf der Angebotsseite insbesondere in den entwickelten Ländern einen starken Schub an Lösungen als Antwort auf die Gefahren der globalen Erwärmung geben wird. Mit Blick auf diese Risiken verlassen wir allmählich unsere Komfortzone, was entsprechende Lösungen anschieben wird. Das zieht wiederum höhere Investitionen nach sich und damit auch einen signifikanten Anstieg der Produktivität, der auch erforderlich ist, um der vom Menschen gemachten Klimakatastrophe entgegenzuwirken. In den nächsten fünf Jahren wird es mehr Aktion auch von Investoren und Unternehmen geben, die endlich aufgewacht sind. Das ist übrigens auch ein wichtiger Ansatz, um der drohenden säkularen Stagnation zu begegnen.
Auch für die kommenden fünf Jahre sehen Sie die größten Chancen in den Aktienmärkten, die Renditen an den Bondmärkten sollen weiter sehr niedrig bleiben. Wie lang dürfte diese Ultraniedrigzinsphase noch anhalten?
Der in diesem Zusammenhang entscheidende Faktor ist, wie sich das natürliche Zinsniveau auf längere Sicht entwickeln wird, denn das ist der Zinssatz, auf den die Notenbanken ihre Geldpolitik als Zielgröße ausrichten. Dieser natürliche Zinssatz, auf den viele Faktoren einwirken, lässt sich nicht einfach beobachten, man kann ihn nur mit komplexen Modellen in etwa abschätzen. Einer der wichtigsten Einflussfaktoren ist die globale Sparquote. Ben Bernanke hat schon 2005 festgestellt, dass wir eine weltweite Flut an Ersparnissen haben. Dies hat zu den stetig sinkenden Zinsniveaus geführt. Wenn wir jetzt aber höhere Ausgaben sehen sowohl hinsichtlich der Unternehmensinvestitionen als auch des privaten Konsums, dann könnte es eine Bodenbildung und danach Anstiege der Realzinsen geben. Dann lässt sich auch erwarten, dass die Notenbanken dieser Entwicklung folgen und ihre Leitzinsen spürbar anheben. Dort sind wir zwar jetzt noch nicht, ein Faktor, der dies begünstigt, könnten allerdings die höheren Ausgaben im Zusammenhang mit der grünen Transition der Volkswirtschaften sein. Und wir sind auch von einer zyklischen Betrachtungsweise her der Meinung, dass die Anleihezinsen mit Blick auf die Fundamentaldaten derzeit zu niedrig sind, wenn sich das gegenwärtige Wirtschaftswachstum auch weiterhin als robust erweist und über dem langfristigen Trend bleibt.
Das Interview führte