FÜNF JAHRE NEGATIVZINS IN DER EUROZONE - IM INTERVIEW: CHRISTOPH RIEGER, COMMERZBANK

Vermögenspreisblasen bewusst in Kauf genommen

Analyst über die aktuelle Situation an den Rentenmärkten nach einem halben Jahrzehnt mit Minuszinsen

Vermögenspreisblasen bewusst in Kauf genommen

Christoph Rieger, der bei der Commerzbank das Zins- und Credit-Research verantwortet, geht im Interview der Börsen-Zeitung auf die Auswirkungen von fünf Jahren Negativzinsen in der Eurozone ein.- Herr Rieger, auf den Tag genau vor fünf Jahren wurde die Rendite einer ehemals zweijährigen Bundesschatzanweisung, die damals noch eine Restlaufzeit von rund einem Jahr hatte, am Sekundärmarkt erstmals negativ. Hand aufs Herz: Haben Sie das seinerzeit für ein kurzfristiges temporäres Phänomen gehalten, oder sahen Sie darin einen Trend?Die Situation war damals eine ganz andere als heute. Die EZB-Leitzinsen sind noch positiv gewesen. Die Ursache der negativen deutschen Renditen war vielmehr die Staatsschuldenkrise. Investoren sind in sichere Papiere geflüchtet, und man war bereit, dafür eine “Versicherungsprämie” in Form negativer Zinsen zu entrichten. Unter diesen Vorzeichen konnte das kein Dauerzustand sein. Entweder würde die Krise weiter eskalieren und der Euro zerbrechen, oder, wie geschehen, sie entspannt sich, und es macht für Investoren keinen Sinn mehr, negative Zinsen zu akzeptieren. Heute sind die negativen Zinsen am kurzen Ende hingegen eine Folge der Negativzinspolitik der EZB. Das bedeutet, dass der Markt sich viel länger in einem stabilen Gleichgewicht befinden kann, da institutionelle Investoren einfach keine Alternativen im Euro-Geldmarkt vorfinden, ohne dabei sehr hohe Kreditrisiken einzugehen.- Am kurzen Marktende, also im Zweijahresbereich, sind wir mittlerweile wieder auf Rekordtief angekommen. Was steckt dahinter?Die negativen Renditen im zweijährigen Bereich von unter – 0,7 % sehen in der Tat im aktuellen Umfeld steigender Inflationserwartungen extrem aus. Das Bild relativiert sich jedoch, wenn man berücksichtigt, dass die Finanzierungssätze – Repos – für deutsche Papiere häufig noch deutlich niedriger liegen. Das bedeutet, dass man selbst auf diesem Renditeniveau noch einen positiven laufenden Zinsertrag – sogenannte Carry – erzielen kann. Der Grund für die sehr negativen Finanzierungssätze ist die Knappheit an deutschen Papieren, etwa für besicherte Leihgeschäfte, wobei die Ursache dafür natürlich das Anleihekaufprogramm der EZB ist. Die EZB scheint zwar bereit zu sein, über Änderungen bei ihrer Wertpapierleihe mehr Papiere leichter verfügbar zu machen. Da die Bundesbank jedoch die große Masse der Papiere hält, kommt es entscheidend darauf an, ob auch sie ihre Bedingungen lockert.- Am längeren Ende scheint der Trump-Effekt auch schon wieder egalisiert zu sein. Bei den zehnjährigen Bundrenditen haben sich die Sätze gemessen an den zwischenzeitlichen Hochs praktisch wieder halbiert. Denken Sie, dass die Kurve von zwei bis zehn Jahren nochmals komplett ins Minus abrutscht?Die Rendite einer Anleihe ist stets identisch zu ihren erwarteten Finanzierungssätzen plus einer Laufzeiten- beziehungsweise Risikoprämie. Der Zusammenhang zwischen den Finanzierungssätzen und Anleiherenditen wie oben beschrieben ist daher am kurzen Ende am direktesten. Am längeren Ende der Kurve ist es hingegen bemerkenswert, dass die deutschen Renditen infolge der US-Wahl nicht noch mehr gestiegen sind. Der Renditeabstand von US-Treasuries ist auf über 200 Basispunkte angestiegen, ein Niveau, das man seit fast drei Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Solange die Inflations- und Angebotsrisiken in den USA weiter nach oben gerichtet sind und die Staatsschuldenkrise in der Eurozone nicht wieder aufflammt, sollten negative Renditen im zehnjährigen Bereich der Vergangenheit angehören.- Was sind für Sie die größten Verzerrungen beziehungsweise Negativentwicklungen, welche die negativen Renditen an den Finanzmärkten in den vergangenen Jahren ausgelöst haben?In der deutschen Öffentlichkeit stehen oft die Probleme der Sparer im Vordergrund. Die Schwierigkeiten für Lebensversicherer und Pensionsfonds, ihre Zinsversprechen zu erfüllen kann man in einer alternden Bevölkerung auch nicht kleinreden. Hinzu kommen die Ertragssorgen bei den Banken durch sinkende Zinsmargen. In beiden Bereichen wirken negative Zinsen wie ein schleichendes Gift, dessen verheerende Wirkung erst nach einiger Zeit sichtbar wird. Abgesehen davon gibt es auch noch eine Reihe von technischen Themen an den Finanzmärkten. Die lognormalverteilten Zinsmodelle von Black/Scholes, die keine negativen Raten darstellen können, sind zwar längst überholt. Die veränderten Eigenschaften einiger Anleiheprodukte machen jedoch noch immer zu schaffen. Man denke etwa nur an variabel verzinsliche Anleihen, deren Zinszahlungen nicht negativ werden dürfen. Diese Papiere verhalten sich in ihrem Zinsänderungsrisiko nicht mehr wie Geldmarktpapiere, sondern wie Nullzinsanleihen.- Und was sind die größten Verzerrungen, die dadurch in der Realwirtschaft hinterlassen wurden?Eine Umschichtung in Bargeld hat es bislang nicht in größerem Stil gegeben, und die ist auch nicht zu erwarten, solange die Banken die Negativzinsen nicht auf die Sichtguthaben von Privatkunden weiterreichen. Anderweitige Verzerrungen können sich ergeben, wenn Steuer- oder Abgabeschuldnern statt einem Skonto ein längeres Zahlungsziel eingeräumt wird – eine Praxis, die dem Vernehmen nach etwa von Schweizer Kantonen praktiziert wird. Die größten realwirtschaftlichen Auswirkungen freilich dürften sich durch Vermögenspreiseffekte ergeben. Jeder, der etwa im Rhein-Main-Gebiet oder München überlegt, ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen, weiß, wovon ich rede. Da die Kombination von Negativzinspolitik und Anleihekäufen durch die EZB bewusst darauf abzielt, Investoren in riskantere Anlageklassen zu drängen, wird das Entstehen von Vermögenspreisblasen offenbar bewusst in Kauf genommen.- Welche Faktoren sprechen dafür, dass das Niedrig- oder Negativzinsumfeld uns noch eine ganze Weile begleiten wird?Entscheidend wird die Inflationsentwicklung sein. Wenn, wie wir erwarten, die Kernteuerungsrate in der Eurozone in den kommenden Jahren kaum über 1 % ansteigt, wird die EZB keine Alternative sehen, die Zinsen so niedrig zu halten, zumal im kommenden Jahr ihr Anleihekaufprogramm an rechtliche und praktische Grenzen stoßen dürfte. Hinzu kommen zweitens die gestiegenen politischen Risiken in der Eurozone, welche die EZB darin bestärken, selbst bei steigenden Inflationsraten die Zinsen noch länger niedrig zu halten. Bei Bundesanleihen kommt noch hinzu, dass die Emissionen im kommenden Jahr weiter zurückgehen sollten. Das bedeutet, dass die weiterhin hohe Nachfrage von der EZB und von konservativen Investoren auf ein noch geringeres Angebot trifft.- Und andersherum: Wann werden wir bei einer zehnjährigen Bundesanleihe wieder einen Kupon von 6 % sehen, so wie er ja auch immer noch in den aktuellen Kontraktspezifikationen des Bund-Futures festgeschrieben ist?Ganz ehrlich: Ich bin überzeugt, dass wir beide das nicht mehr in unserer Karriere erleben werden.—-Das Interview führte Kai Johannsen.