IM INTERVIEW: HENNING ESSKUCHEN, ERSTE GROUP

"Vieles hat nun eine negative Note"

Osteuropa-Analyst erwartet vorerst keine Erholung in der Türkei - Leistungsbilanzdefizit als Achillesferse

"Vieles hat nun eine negative Note"

Unter den Schwellenländern ist insbesondere die Türkei mit hohen Mittelabflüssen konfrontiert. Henning Eßkuchen, der bei der Ersten Group in Wien das Aktienresearch für Osteuropa leitet, erwartet kurzfristig keine nennenswerte Erholung. Mittelfristig sieht er in der Region indes durchaus Chancen für Investoren, insbesondere in Polen, Rumänien und Serbien.- Herr Eßkuchen, weltweit ziehen Investoren zurzeit Mittel aus den sogenannten Emerging Markets ab. In Osteuropa ist davon in erster Linie die Türkei betroffen. Wie wird sich dort die Lage in den nächsten Monaten entwickeln?In der Tat fließen derzeit signifikante Mittel aus den Emerging Markets ab, allerdings trifft es mehr die asiatischen Märkte sowie die diversifizierten Global-Emerging-Markets-Fonds. Relativ zum gehaltenen Vermögen hat es diese Fondskategorien insbesondere im Juni hart getroffen. In Osteuropa sind ebenfalls die liquidesten Märkte Russland und die Türkei betroffen. Im Juli war eine gewisse Abschwächung dieses Trends zu erkennen. Eine signifikante Erholung sollte aber nicht unmittelbar zu erwarten sein.- Was bedeutet das für türkische Aktien, die Staatsanleihen des Landes und die Lira?Die unmittelbaren Auswirkungen sind offensichtlich, mit einer schwächeren Börse, steigenden Zinsen und einer abwertenden Lira. Die Achillesferse der Türkei liegt natürlich in ihrem Leistungsbilanzdefizit, das im Wesentlichen nur kurzfristig finanziert ist. Fundamental hat die Türkei einiges an ihrer relativen Attraktivität verloren. Absolut ist ein Wirtschaftswachstum von 3,6 % im laufenden Jahr 2013 zwar immer noch mehr als solide, aber andere Märkte haben eine bessere Erholungsbewegung in Aussicht. Politische Entwicklungen tragen das Ihrige bei, ob nun hausgemacht oder auf regionaler Ebene, sprich in Syrien.- Wie erklärt sich der Stimmungswandel mit Blick auf die Türkei?Im Kern hat vieles vom dem, was bis dato ein Vorteil für die Türkei war, nun eine negative Note. So war der geringere Exportanteil in Richtung der Europäischen Union eher ein Vorteil relativ zu anderen osteuropäischen Märkten, wohingegen man nun nicht so stark von der Erholung in der Eurozone profitiert. Die treibende Inlandsnachfrage und deren Effekte auf Leistungsbilanzdefizit und Inflation sind solang toleriert worden, wie das externe Umfeld kein Fragezeichen geliefert hat. Mit steigenden Zinsen und dem Bemühen der Zentralbank, die Währung einzufangen, gerät der Wachstumsausblick für den türkischen Markt, insbesondere für die Banken, in Frage. Gewinnrevisionen sind derzeit durchweg negativ, und mit diesem verhaltenen Ausblick besteht keine Neigung, den Markt weiterhin mit einer Prämie zu seiner historischen Bewertung zu handeln, wie dies zuvor durchaus der Fall gewesen war.- Sind Auswirkungen auf andere Länder der Region zu befürchten?Eher nicht. Natürlich ist ein gewisser Effekt der negativen Stimmung den Schwellenländern gegenüber auch in anderen Märkten der Region zu spüren. Osteuropa hat allerdings den Vorteil, dass es im Wesentlichen viel zu gewinnen hat, wohingegen andere eher mehr zu verlieren haben. Wir würden definitiv nicht von einer Abkopplung reden, aber die Erholung in der Eurozone sollte es den Märkten in Osteuropa mit ihrer Exportorientierung in diese Richtung durchaus erlauben, hier einen Unterschied zu machen.- Was raten Sie Anlegern zurzeit, die an den Aktienmärkten in Osteuropa engagiert sind?Ich rate ihnen genau zu beobachten, welche lokalen Risiken die Erholungstendenz via Eurozone gefährden und wie stabil die Erholungsaussichten sind beziehungsweise welche Bewertung man dafür bezahlt. In Ungarn zum Beispiel zählt zu den Risiken die Kreativität bei der Gestaltung von Unternehmenssteuern, in Tschechien besteht bei den kommenden vorgezogenen Wahlen ebenfalls ein gewisses politisches Risiko. Während wir Polen für eine der spannenderen Börsen halten, bleibt abzuwarten, ob sich die Erholung denn nun auch in einer Revision der Unternehmensgewinne nach oben niederschlägt.- Wie groß ist die Chance dafür?Der Konsensus sieht immer noch einen negativen Ausblick für die nächsten zwölf Monate. Wir erwarten zumindest eine Wende im Revisionstrend im Bankensektor, nötig wäre es angesichts der herzhaften Bewertung allerdings auch. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis beträgt aktuell 13,5. Zudem steht eine Entscheidung bezüglich der lokalen Pensionsfonds immer noch aus, und die sind wesentlich für den Markt.- Wann ist wahrscheinlich ein geeigneter Zeitpunkt gekommen, um in Osteuropa neue Positionen aufzubauen?Die aktuelle Unruhe bedingt durch Syrien und die Aktionen der Federal Reserve sollte niemanden etwas unmittelbar verpassen lassen. Abhängig davon, wie sich die genannten Dinge entwickeln und wie sensibel die persönlichen Anlagehorizonte auf den individuellen Einstiegszeitpunkt sind, sollten Investoren jedoch durchaus in den Startlöchern stehen, um sich in der Region zu positionieren.- An welchen Börsen, in welchen Sektoren sehen Sie dabei die attraktivsten Chancen?Neben Polen gefallen uns derzeit die Frontier Markets Rumänien und Serbien am besten. In Rumänien steht einiges zur Privatisierung an, und die Energiepreisliberalisierung liefert einen interessanten Ausblick. Serbien wird im Januar 2014 in EU-Beitrittsverhandlungen eintreten und hat damit noch den gesamten Weg durch die EU-Konvergenz vor sich. Natürlich sind die spezifischen Risiken von Märkten dieser Größe und dieses Entwicklungsstadiums zu beachten in Bezug auf Liquidität und Corporate Governance.- Und wovon sollten Investoren besser die Finger lassen?Wir sind von Kroatien nicht übermäßig beeindruckt. Die Bewertung und der Wachstumsausblick sprechen keine besondere Einladung aus, fiskalische Konsolidierungsmaßnahmen waren bis dato nicht übermäßig beeindruckend. Der interessante Sektor Tourismus ist über die Börse recht schwierig zu erreichen. Der EU-Beitritt hat zwar für gute Presse gesorgt, aber keinen unmittelbaren positiven Einfluss auf die Unternehmensergebnisse. Ansonsten würden wir bei spätzyklischen Sektoren noch Zurückhaltung üben. Auch wenn die Tendenz zur Erholung den Weg in den positiven Teil des Zyklus anzeigt, so sollte es doch noch ein wenig früh sein für Bereiche wie Bau und Baumaterial. Eine Ausnahme könnte das Thema der öffentlichen Infrastruktur sein.—-Die Fragen stellte Thorsten Kramer.