Wall-Street-Optimismus lässt Realitäten außen vor
Der US-Aktienmarkt hat im ersten Halbjahr einmal mehr bewiesen, dass Kursgewinne ohne eine kräftige Erholung der Konjunktur möglich sind. Viele Analysten zeigen Optimismus auch für das zweite Halbjahr. Aber das Fundament der Hausse ist dünn: Bislang steigen die Firmengewinne vor allem deshalb, weil die Gesellschaften Kosten reduzieren. Von Sebastian SchmidWährend die globale Konjunktur mit deutlich gebremstem Tempo unterwegs ist und auch der Aufschwung in den Vereinigten Staaten nur gemächlich Fahrt aufnimmt, floriert der Aktienhandel an der Wall Street fast losgelöst von der weiterhin spürbaren Verunsicherung. Um knapp 19 % hat der Leitindex Standard & Poor’s 500 bis Mitte August zugelegt und der international stark beachtete Dow Jones um knapp 18 %. Selbst wenn in den kommenden Monaten nur das aktuelle Kursniveau gehalten würde, wäre 2013 bereits ein fantastisches Jahr für Investoren in den USA. Viele Marktanalysten und Investoren setzen für die nächsten Monate allerdings auf eine Fortsetzung der Hausse. “Wir erwarten, dass der US-Aktienmarkt weiterhin fester tendieren wird. Allerdings bleibt die Geschwindigkeit der Erholung der US-Wirtschaft moderat”, sagt etwa Jean Médecin, Mitglied des Investment-Boards beim französischen Asset Manager Carmignac Gestion. Während die amerikanische Wirtschaft zumindest im Schneckentempo weiter zulegt, hängt die für die nächsten Wochen erwartete Drosselung der Fed-Anleihekäufe von derzeit 85 Mrd. Dollar monatlich wie ein Damoklesschwert über dem Markt. Und auch die US-Binnenwirtschaft, die vielen noch als sicherer Hafen in der rauen See der Weltwirtschaft gilt, steht längst nicht auf so stabilen Füßen, wie mancher Investor dies gerne sähe. Wie dünn das Fundament ist, auf dem die Aktienrally fußt, hat sich in der abgelaufenen US-Quartalsberichtssaison gezeigt. Das Gros der Unternehmen aus dem S & P 500 hat zwar die in den vorangegangenen Monaten bereits kräftig gesenkten Gewinnerwartungen übertreffen können; damit scheint eine Fortsetzung der Rally auf den ersten Blick möglich. Die Art und Weise der Gewinnmaximierung ist allerdings bezogen auf die nähere Zukunft nicht besonders ermutigend. “Die Ergebnisverbesserungen sind glanzlos ausgefallen”, sagt Sam Stovall, Chef-Aktienstratege bei S & P Capital IQ. Haupttreiber seien nicht etwa Umsatzsteigerungen gewesen, sondern Kosteneinsparungen und Aktienrückkäufe. Im abgelaufenen Quartal sei der Umsatz im Schnitt sogar um gut 3 % gesunken. Für das zweite Halbjahr rechnet S & P Capital IQ allerdings wieder mit einer Rückkehr zu Erlöswachstum. Auch Carmignac-Experte Médecin ist wegen des Umsatzschwunds noch nicht beunruhigt. “Es ist nicht untypisch, dass Firmen zunächst über Kosteneinsparungen ihre Gewinne steigern, ehe das Umsatzwachstum folgt und für einen weiteren Schub sorgt”, meint er. “Erfolgreich entschuldet”Ohnehin hätten die Vereinigten Staaten ihre Hausaufgaben seit der Krise gemacht. “Im Vergleich zu Europa haben die USA sich in den zurückliegenden Jahren erfolgreicher entschuldet. Das gilt sowohl für Privatpersonen als auch für private Unternehmen.” Die Entschuldung hat dafür gesorgt, dass die US-Konzerne auf rekordhohen Liquiditätsreserven sitzen. Den Unterschied zwischen Börseneuphorie und realwirtschaftlicher Verunsicherung illustrieren auch die Barreserven der Unternehmen. Würde der Optimismus, der offenbar viele Anleger erfasst hat, auch die Unternehmenslenker ergreifen, müssten diese nun kräftig investieren. Tatsächlich herrscht in vielen Industrien aber nach wie vor eine fast fundamentalistische Investitionszurückhaltung. Dabei kommen die Firmen im Leitindex S & P 500 verschiedenen Erhebungen zufolge derzeit auf mehr als 1 Bill. Dollar an Barreserven – mehr als das Fünffache der Cash-Vorräte im Jahr 2000. Selbst wenn die Unternehmensinvestitionen später im Jahr wieder anziehen sollten, warnt Stovall davor, dies sofort als ein Zeichen für steigende Erlöse zu werten. “Es kann sich auch nur darum handeln, dass veraltete Produktionsmittel nach längerer Investitionspause ausgewechselt werden müssen.” S & P Capital IQ rechnet für dieses Jahr nicht mehr mit einem Anstieg der Investitionen. Das werde sich erst 2014 einstellen, wenn die Weltwirtschaft wieder Fahrt aufnehme.Dem Optimismus tut das quälend langsame Tempo der Fortschritte derweil noch keinen Abbruch. Im vom Marktforschungsunternehmen Birinyi Associates veröffentlichten Ticker Sense Blogger Sentiment, für den die 32 prominentesten US-Investment-Blogs zur Stimmung an der Wall Street befragt werden, haben die Bullen die Bären Ende Juli im Verhältnis 2 zu 1 übertroffen. Noch im Juni hatten hier die Mahner Oberhand. Skeptisch zeigten sich bis zuletzt auch viele Marktanalysten. So warnte noch im Mai selbst David Kostin, der im Prinzip eher positiv für die US-Aktienmarktentwicklung gestimmte Aktienstratege von Goldman Sachs, davor, dass die Bewertung zu schnell gestiegen sei. Nur unter idealen Bedingungen real niedriger Zinsen bei zugleich hohem US-Wirtschaftswachstum könnten die Multiples und damit auch die Kurse noch wesentlich höher steigen. Hedgefonds-Manager Stanley Druckenmiller erwartete ein Ende der Bullenstimmung, sobald die Fed das Auslaufen des Anleihekaufprogramms “Quantitative Easing 3” (QE3), über das Monat für Monat 85 Mrd. Dollar in den Markt gepumpt werden, ankündigt. Spätere Drosselung der BondkäufeS & P Capital IQ geht davon aus, dass das Zurückfahren der Anleihekäufe im September, das Analysten im Schnitt auf 15 Mrd. Dollar taxieren, bereits in die Aktienkurse eingepreist worden ist. Das Haus sieht für die Notierungen deshalb weiteres Potenzial nach oben, sollte die QE3-Drosselung wie prognostiziert erst im Dezember beginnen. Zum Jahresende sieht S & P Capital IQ den S & P 500 bei 1 730 Zählern und auf Sicht eines Jahres bei 1 780 Zählern. Auch Kurt Schappelwein, Leiter der Abteilung Multi Asset Strategien bei Raiffeisen Capital Management in Wien, schließt eine spätere Drosselung der Anleihekäufe durch die Federal Reserve nicht aus. “Die Gefahr eines vorzeitigen Endes der quantitativen Lockerung scheint überschaubar zu sein angesichts niedriger Inflationsraten und der nach wie vor über den Schwellenwerten der Fed liegenden Arbeitslosigkeit”, sagt er.Anders als Goldman-Stratege Kostin sieht Stovall von S & P Capital IQ das Kurs-Gewinn-Verhältniss des Gesamtmarktes noch nicht als gefährlich an. “Bezogen auf den erwarteten Gewinn in den nächsten zwölf Monaten werden die Titel im S & P 500 zurzeit im Durchschnitt zu einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 15 gehandelt”, sagt er. Seit 2000 habe die Bewertung im S & P 500 durchschnittlich aber 16 betragen. Würde man zeitlich weiter zurückgehen, käme man sogar auf noch höhere Durchschnittswerte. “Es gibt also noch Potenzial”, lautet Stovalls Fazit.Das sehen die Wells-Fargo-Aktienstrategen Stuart Freeman und Scott Wren ähnlich, die den S & P 500 zum Jahresende nun bei 1 700 Zählern erwarten, nachdem sie vor einigen Wochen noch 1 650 Punkte auf dem Zettel hatten. Dabei sei allerdings mit einer höheren Volatilität zu rechnen als im ersten Halbjahr, warnen sie. Darauf stellt sich auch S & P Capital IQ ein: “Per 30. Juni hatten wir im laufenden Jahr erst zwölf Handelstage mit einem Kursverlust von zumindest 1 %. Im Schnitt waren es seit dem Jahr 2000 jährlich hingegen 41 Tage”, sagt Stovall. Dass das zweite Halbjahr ähnlich ruhig verläuft, hält er für unwahrscheinlich. “Selbst wenn es im zweiten Halbjahr doppelt so viele Tage werden wie im ersten Halbjahr, lägen wir aber noch immer unter dem Gesamtjahresdurchschnitt.”Ed Yardeni von Yardeni Research glaubt, der US-Aktienmarkt werde weiterhin davon profitieren, dass die Investoren gemischter Portfolios ihren Einsatz in Anleihen, deren Kurse wegen der Drosselung von QE3 stärker fallen dürften, reduzieren wollen. Allerdings dürften in einem volatilen Umfeld manche Branchen deutlich besser abschneiden als andere. Enttäuschend entwickelten sich zuletzt vor allem Technologie-Aktien. Die Aussichten namhafter Konzerne aus diesem Sektor trübten sich trotz des konjunkturellen Aufschwungs ein. So leiden zum Beispiel Dell, Oracle und Salesforce darunter, dass sich der Investitionsstau in der US-Unternehmenslandschaft noch immer nicht aufgelöst hat. Die von Apple, Google und anderen Technologieriesen angeregte Steueramnestie zur Repatriierung im Ausland erwirtschafteter Gewinne dürfte daran kaum etwas verändern. “Das letzte Mal, als es eine Steueramnestie für Unternehmen gab, wurde das Gros der Mittel in Aktienrückkäufe investiert, obwohl auch da zusätzliche Investitionen in die Wirtschaft versprochen worden waren”, erinnert Stovall von S&P Capital IQ. Das bedeutet einerseits zwar, dass eine Steueramnestie die Aktienkurse treiben dürfte. Andererseits verringert diese Erfahrung aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass die US-Regierung einer steuerfreien Wiedereinfuhr zustimmen wird. Wirtschaft enttäuscht die OptimistenNach dem schwachen US-Wirtschaftswachstum im ersten Halbjahr rechnen viele Ökonomen mit einem kräftigeren Plus im zweiten Halbjahr. Auch das könnte die Unternehmen dazu treiben, die bislang vor allem von der Erholung am Immobilienmarkt und dem gestiegenen Verbrauchervertrauen getragene Konjunkturerholung stärker zu unterstützen. Diese Hoffnung gab es allerdings schon in den vergangenen drei Jahren. Zumeist wurde sie dann enttäuscht. 2010 folgte auf ein Wachstum von 2,3 % in den ersten sechs Monaten ein Zuwachs von 2,5 % in der zweiten Jahreshälfte. 2011 verdoppelte sich die Zuwachsrate immerhin von 1,3 % auf 2,7 %, während es ein Jahr später im zweiten Halbjahr nur um eine Nachkommastelle auf 1,8 % nach oben ging. Im ersten Halbjahr 2013 betrug das Plus nach vorläufigen Schätzungen nun gerade noch 1,4 %. Um die Erwartungen der Notenbank zu treffen, müsste die Wirtschaft im zweiten Halbjahr also mehr als doppelt so schnell expandieren – ein eher unwahrscheinliches Szenario, wenn die Erfahrungen der vergangenen Jahre herangezogen werden. Am Ende bleibt noch der AktienrückkaufDoch nicht nur auf gesamtwirtschaftlicher Ebene enttäuscht die Erholung. Für die Unternehmen selbst sieht es – abgesehen von der Aktienkursentwicklung – noch ungünstiger aus. Das Gewinnwachstum ist jedenfalls deutlich zurückgegangen – von fast 15 % im Jahr 2011 bis auf knapp 2 % im ersten Halbjahr 2013. Zieht man dann noch in Betracht, dass die Erlöse im Durchschnitt schrumpfen und die Kosteneinsparungsmöglichkeiten zunehmend limitiert sind, bleibt den Firmen bald nur noch ein Aktienrückkauf, um den Gewinn je Aktie zu steigern. Die Konzerne machen davon wie schon im Vorjahr bereits erneut viel Gebrauch. Bezahlt werden die Aktien oft mit geliehenem Geld, das wegen der geringen Finanzierungskosten einer Abschmelzung der üppigen eigenen Reserven oft vorgezogen wird. Das hinterlässt nicht zuletzt Spuren am Bondprimärmarkt. Im Juli wurden mit einem Emissionsvolumen von 103 Mrd. Dollar so viele US-Unternehmensanleihen emittiert wie nie zuvor. Auch für das Gesamtjahr stehen die Zeichen auf Rekord. Die Anleiheemissionen konterkarieren damit den Trend am Sekundärmarkt, wo Aktien deutlich überlegen sind. Nicholas Reitenbach vom Vermögensverwalter Wilkinson O’Grady beobachtet zudem nicht nur eine Umschichtung von Anleihen in Aktien, sondern auch vom Rest der Welt in die USA. Die Hausse am amerikanischen Aktienmarkt kann damit wohl noch ein wenig weitergehen, falls die Anleger nicht doch plötzlich zu der Erkenntnis kommen, dass die Bewertungen historisch gesehen zwar niedrig, in Relation zu den stetig verschlechterten Wachstumsaussichten aber durchaus ambitioniert sind.