Warum die „German Angst“ deutsche Aktien kaltlässt
Gastbeitrag: Anlagethema im Brennpunkt (300)
Warum die „German Angst“ deutsche Aktien kaltlässt
Wieder einmal beherrscht die Metapher von Deutschland als krankem Mann Europas die Schlagzeilen der Gazetten. Betrachtet man jedoch die Fieberkurve des Dax, dann notiert der Index der heimischen Standardwerte nur wenig unter seinem Allzeithoch. Wie passt das zusammen? Und hat das Kursbarometer womöglich sogar noch weiteres Aufwärtspotenzial?
Der Immobiliensektor ist angesichts des rapiden Zinsanstiegs in eine Art Schockstarre gefallen, die Inflation liegt wie Mehltau auf dem privaten Konsum, und der erhoffte Rückenwind durch eine konjunkturelle Erholung Chinas ist ausgeblieben. Kein Wunder, dass das Wirtschaftswachstum in Deutschland zum Erliegen gekommen ist. Und betrachtet man die als gute Frühindikatoren geltenden Einkaufsmanagerindizes für den Industrie- und Dienstleistungssektor, ist eine schnelle Besserung auch nicht in Sicht.
Neben der aktuellen konjunkturellen Schwäche bremsen eine ganze Reihe struktureller Probleme die Dynamik in der immerhin noch viertgrößten Volkswirtschaft der Welt. Wichtigen energieintensiven Industrien wie der Chemie machen die drastisch gestiegenen Strom- und Gaspreise zu schaffen. Daneben gilt Deutschland vielen mittlerweile als Silicon Valley der Bürokratie mit schwerfälligen Genehmigungsprozessen und einer im internationalen Vergleich lächerlich niedrigen Digitalisierung der Behörden. Hinzu kommt eine ungünstige Demografie, die für weiter hohe Lohnkosten sorgen wird. Für große Unternehmen mit prallen Kapitalpolstern alles Gründe, über eine Verlegung der Produktionsstätten ins Ausland nachzudenken, um dort kostengünstiger zu fertigen.
Angesichts dieser wenig zuversichtlich stimmenden Melange stellt sich die Frage, warum der Dax scheinbar völlig losgelöst von der Lage der deutschen Wirtschaft nur wenig unterhalb seines Allzeithochs notiert. Der wichtigste Grund dafür ist, dass der heimische Leitindex letztlich aus global operierenden Unternehmen besteht. Diese erwirtschaften im Schnitt gerade einmal 20% ihrer Gewinne hierzulande. Daneben gilt es noch ein weiteres Charakteristikum des Dax zu berücksichtigen: Das Kursbarometer ist – wie auch andere Mitglieder der Dax-Familie – aufgrund der zahlreich in ihm enthaltenen exportorientierten Zykliker weniger mit der deutschen, sondern vielmehr eng mit der Entwicklung der Weltwirtschaft korreliert. Wer also globales Wachstum erwartet, sollte in deutsche Unternehmen investieren.
Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, vor dem Hintergrund der Technologie-Rivalität zwischen den USA und China und angesichts der Drohgebärden Pekings in Richtung Taiwan ist die Sensibilität für geopolitische Risiken deutlich größer geworden. Oftmals unterstützt von den Staaten streben daher viele Unternehmen danach, ihre globalen Lieferketten wieder lokaler zu machen oder zumindest innerhalb der Emerging Markets in befreundete Schwellenländer zu verlagern. Diese Entwicklung sollte sich dann in den Auftragsbüchern der deutschen Anlagen- und Maschinenbauer bemerkbar machen.
Daneben könnte den heimischen Anbietern die hartnäckige Inflation in die Hände spielen, die vielerorts bereits zu satten Lohnsteigerungen geführt hat. Um vor diesem Hintergrund die Kosten im Griff zu behalten, ist bei vielen Unternehmen die Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen in den Vordergrund gerückt. Und auch in diesem Feld spielen zahlreiche heimische Anbieter ganz vorn mit. Noch dazu haben bei ihnen Forschung und Entwicklung strategische Bedeutung, womit die Basis gelegt ist, um auch künftig von solchen strukturellen Treibern zu profitieren.
Allerdings fehlt den internationalen Investoren offenbar noch ein wenig der rechte Glauben an diese Story. So beläuft sich das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) für den Dax auf rund 11, beim S&P 500 beträgt es hingegen etwa 19. Dies entspricht einem Bewertungsabschlag von rund 40%, während der historische Schnitt bei etwa 20% liegt. Allerdings ist der Aktienmarkt schnelllebig. Als sich beispielsweise im vergangenen Jahr abzeichnete, dass die Energieversorgung Deutschlands im Winter sichergestellt ist, begann eine Rally, die bis Mitte März dieses Jahres anhielt.