IM BLICKFELD

Was uns die Spanische Grippe über die Coronakrise sagt

Von Christopher Kalbhenn, Frankfurt Börsen-Zeitung, 14.5.2020 Die Zeiten, in denen Ökonomen und Anlagestrategen die Sars-Pandemie der Jahre 2002/2003 als Vergleichsmaßstab für die Coronakrise heranzogen, um daraus Schlüsse für die weitere...

Was uns die Spanische Grippe über die Coronakrise sagt

Von Christopher Kalbhenn, FrankfurtDie Zeiten, in denen Ökonomen und Anlagestrategen die Sars-Pandemie der Jahre 2002/2003 als Vergleichsmaßstab für die Coronakrise heranzogen, um daraus Schlüsse für die weitere Entwicklung der Konjunktur und der Aktienmärkte zu ziehen, sind längst vorbei. Denn das Ausmaß der aktuellen Seuche sprengt das der Sars-Pandemie bei weitem. Wer nach etwas von der Dimension her annähernd Vergleichbarem sucht, muss auf die Spanische Grippe zurückblicken. Die Seuche forderte vor 100 Jahren Schätzungen zufolge weltweit zwischen 25 und 50 Millionen Todesopfer, gemäß manchen Annahmen sogar an die 100 Millionen. Genau wird sich die Zahl wohl nie beziffern lassen. Ermutigende UnterschiedeExperten haben zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass die Situation von damals mit der heutigen kaum zu vergleichen ist. Ein Blick auf die Unterschiede ist aber für die Einordnung der Lage, in er sich die Welt heute befindet, durchaus interessant, und das Ergebnis fällt insgesamt ermutigend aus. Im Bemühen, der Bevölkerung den Ernst der Lage zu verdeutlichen, hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Zusammenhang mit der Pandemie von Krieg gesprochen. Krieg ist ein entscheidendes Stichwort. Anders als im Jahr 1918, als US-Truppen die Spanische Grippe nach Europa trugen, befindet sich die Welt eben nicht in einem großen Krieg. Zunächst keine EindämmungWoher hatte die Spanische Grippe ihren Namen? Spanien war im Ersten Weltkrieg neutral. Anders als in den kriegführenden Staaten, in denen eine strenge Zensur herrschte und potenziell die Moral der Bevölkerung unterminierende Nachrichten unterdrückt wurden, konnte die spanische Presse frei über die Grippe berichten. Die Bevölkerung der Kriegsparteien blieb hingegen über die Schwere der Seuche anfangs im Dunkeln, anders als heute ergriffen die Regierungen zunächst keine Eindämmungsmaßnahmen. Auf den Schlachtfeldern war an solche erst recht nicht zu denken.Als die Spanische Grippe 1918 ausbrach, wurden – ein weiterer bedeutender Unterschied – nahezu sämtliche Ressourcen für die Kriegführung in Anspruch genommen. Dagegen werden heute weltweit in einem Ausmaß ökonomische und medizinische Ressourcen für die Bekämpfung der Corona-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen eingesetzt, das in der Menschheitsgeschichte einmalig ist. Zudem besteht heute die Möglichkeit, die bestehenden ökonomischen Strukturen wieder hochzufahren, während ab 1919 der schwierige Prozess der Umstellung von Kriegs- auf Friedenswirtschaft zu bewältigen war und bei weitem nicht die heutigen Mittel zur Verfügung standen.Der Erste Weltkrieg war eine Zeit der Innovationen. Nur waren diese – darunter Luftkriegführung, Giftgas, Flammenwerfer und Panzer – auf das Töten ausgerichtet. In den zurückliegenden 100 Jahren haben Wissenschaft und Medizin einen gewaltigen Sprung gemacht, und diese Fähigkeiten werden nun vollumfänglich gegen die Pandemie eingesetzt. Weltweit erforschen Wissenschaftler das Virus, es gibt mehr als 80 Projekte zur Entwicklung eines Impfstoffes. Dagegen wurde der Übeltäter der Spanischen Grippe erst Anfang der 1930er identifiziert, von der Entwicklung eines Impfstoffes ganz zu schweigen. Weltweite ImpfkampagneAuch wenn der Zustand der Weltpolitik derzeit alles andere als ideal ist, unterscheidet sich die heutige Lage ebenfalls sehr positiv von der Situation vor hundert Jahren. Anders als heute wäre eine globale Kampagne zur Bekämpfung des Virus aufgrund vielfältiger Konflikte nicht möglich gewesen. Auch ohne die USA, die sich bedauerlicherweise fernhalten, wird es, wenn erstmal ein Impfstoff verfügbar ist, eine weltweite Impfkampagne geben, ähnlich der Kampagne, die in den 1960er Jahren die Pocken ausgerottet hat. Nur ein Beispiel für die im Vergleich zu heute viel größeren politischen Probleme während der Spanischen Grippe: Deutschland war nach dem Krieg isoliert, große Teile der Bevölkerung fühlten sich durch den Versailler Friedensvertrag ungerecht behandelt. Es ist bemerkenswert, dass die in dem Vertrag festgelegte Alleinschuld Deutschlands am Krieg die Öffentlichkeit sehr intensiv beschäftigte, während die Spanische Grippe, die hierzulande mehr als 900 000 Todesopfer gefordert haben soll, in den Medien kaum Beachtung fand. Deutschland und Frankreich führten den Krieg nach 1919, wie es ein Historiker formuliert hat, mit anderen Mitteln fort, durch Besatzung und Schikanen auf der einen und durch systematisches Hintertreiben der Reparationsauflagen auf der anderen Seite. Hätte man damals behauptet, in einer zukünftigen Pandemie 100 Jahre später würden französische Patienten in deutschen Krankenhäusern aufgenommen, wäre man im besten Fall milde belächelt worden. Vor langer DurststreckeDie heute wesentlich besseren ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen bzw. medizinischen Voraussetzungen bedeuten jedoch keineswegs, dass die Coronakrise schnell überwunden wird, und so könnten die Erwartungen über eine Rückkehr zur Normalität, die sich in der starken Gegenbewegung an den Aktienmärkten ausdrücken, enttäuscht werden. Da unklar ist, wann ein Impfstoff vorliegt, zeichnet sich vielmehr eine lange Durststrecke ab, die von Rückschlägen geprägt sein wird. Auch wenn das Virus, das die Spanische Grippe auslöste, sich anders verhält als das Coronavirus, lohnt sich ein Blick auf den Verlauf jener Pandemie. Sie hielt von 1918 bis 1920 an und verbreitete sich in drei Wellen. Auch das Coronavirus wird wahrscheinlich nicht so schnell verschwinden. In Südkorea und China, die den Eindruck erweckten, die Krise überstanden zu haben, mehren sich die Neuinfektionen. Prekäre PhaseVor diesem Hintergrund folgt mit den Lockerungen der Mobilitätsbeschränkungen auch in Europa und den Vereinigten Staaten nun eine prekäre Phase mit dem Risiko neuer Infektionswellen, die den Hoffnungen auf eine zeitnahe wirtschaftliche Erholung einen schweren Schlag versetzen würden. Das Coronavirus ist nicht nur hochansteckend, sondern hat obendrein die tückische Fähigkeit, sich unerkannt zu verbreiten.Das größte Risiko sind derzeit die Vereinigten Staaten, auf die mehr als ein Viertel der weltweit registrierten Corona-Todesfälle und nahezu ein Drittel aller Infektionen entfallen. Sie werden von einem Präsidenten geführt, dessen Hauptagenda nicht die effektive Bekämpfung der Pandemie ist, sondern seine Wiederwahl und damit auch ein zügiges Wiederhochfahren der Wirtschaft.