IM INTERVIEW: GARETH ISAAC, INVESCO

"Wie bei Alice im Wunderland"

Der Anlagechef für Anleihen in der EMEA-Region über negative Zinsen und monetäre Staatsfinanzierung

"Wie bei Alice im Wunderland"

Geht es nach Gareth Isaac, Anlagechef für Fixed Income in der EMEA-Region bei Invesco, werden den geldpolitischen Lockerungsmaßnahmen seit Beginn der Pandemie weitere Schritte folgen. Er erwartet jedoch nicht, dass sich die Bank of England dazu durchringen wird, den Leitzins unter null zu senken. Das würde ihm zufolge das Pfund zu stark unter Druck setzen. Herr Isaac, wird Großbritannien einen negativen Leitzins bekommen?Großbritannien ist ein interessanter Fall. Man muss sich ansehen, was in der Eurozone passiert ist. Obwohl am Markt bereits weitere Schritte nach unten eingepreist werden, wollen viele EZB-Ratsmitglieder den Leitzins vermutlich nicht weiter senken. Warum?Weil sie negative Zinsen nicht für besonders effektiv halten, wenn es darum geht, die Kreditnachfrage in der Eurozone zu stimulieren. Die schwedische Riksbank, die ebenfalls einen negativen Leitzins hatte, ist wieder bei null angekommen. Dabei brachte sie Zurückhaltung zum Ausdruck, was eine Rückkehr in ein negatives Zinsumfeld angeht. Das ist vielsagend. Was heißt das für die Bank of England?Für die Bank of England ist es ein Hinweis darauf, dass trotz aller Machbarkeitsrhetorik noch viel zu tun ist, bevor der Leitzins unter null gesenkt werden kann, und alle Eventualitäten in Betracht gezogen werden müssen. Die Geldpolitiker sehen sich die technischen Aspekte an, also wie sich das auf einzelne Märkte auswirken würde, die Banken etwa. Ich glaube aber nicht, dass sie in diese Richtung gehen wollen. Warum nicht?Es ist so ein bisschen wie mit dem Kaninchenloch in Alice im Wunderland. Wenn man erstmal drin ist, kommt man nur sehr schwer wieder heraus. Negative Zinsen gehören natürlich zum Werkzeugkasten der Bank of England. Sie will nichts ausschließen, weil sie reaktionsfähig bleiben muss, nicht nur in Bezug auf Covid, sondern auch mit Blick auf den wirtschaftspolitischen Ausblick und geopolitische Probleme. Sie würde dieses Werkzeug nur nicht gerne benutzen. Wo liegt das Problem?Aus meiner Sicht unterscheidet sich Großbritannien sehr stark von der EU. Der Brexit steht vor der Tür. Wir haben ein Zwillingsdefizit, also sowohl ein Haushalts- als auch ein Leistungsbilanzdefizit. Wir sind in hohem Maße davon abhängig, dass Ausländer die britische Wirtschaft finanzieren. Zu einer Zeit die Zinsen unter null zu senken, in der die Wirtschaft im Vergleich zum Vorjahr um 7 bis 8 % geschrumpft ist und die Zahl der Covid-Infektionen steigt, könnte das Pfund übermäßig unter Druck setzen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Bank of England das so haben möchte. Wo liegt der Unterschied zur EZB?Die EZB hat einen wesentlich größeren Markt und auf paneuropäischer Basis einen Handelsüberschuss vorzuweisen. Sie ist deshalb in einer wesentlich stärkeren Position. Auch im Vergleich zu Japan ist Großbritannien anfällig für eine potenziell scharfe Abwertung des Pfunds, sollte es zu negativen Zinsen kommen. Aus meiner Sicht ist für die Bank of England Quantitative Easing das wichtigste Instrument, insbesondere für die kommenden drei bis sechs Monate. Und dann?Viel hängt davon ab, ob es einen Impfstoff geben wird. Sollte sich das im Schlussquartal abzeichnen und eine Auslieferung im ersten Quartal 2021 möglich sein, könnten die Notenbanken viel realistischer abschätzen, wohin sich die Wirtschaft entwickelt. Ohne Impfstoff ist es viel schwieriger, vor allem wenn erneut Ausgangsbeschränkungen verhängt werden. Bei der Erprobung des AstraZeneca-Impfstoffs hat es Probleme gegeben.Derzeit befinden sich sieben Impfstoffe in Phase III der klinischen Erprobung. Weil die Verfahren beschleunigt wurden, dauert es nicht mehr zehn Jahre, sondern zehn Monate, bis sie auf den Markt gebracht werden können. Rückschläge sind natürlich zu erwarten. Aber mit Blick auf die Anstrengungen der pharmazeutischen Industrie weltweit und die Unterstützung, die von den Regierungen kommt, sollten wir einen Impfstoff in irgendeiner Form bekommen. Und bis dahin?Ich bin kein Epidemiologe, aber viele erwarten, dass es zu einer zweiten Welle kommen wird, wenn die Temperaturen sinken und die Leute mehr Zeit in geschlossenen Räumen verbringen. Das kann man nicht nur in Großbritannien beobachten, in Frankreich und Spanien ist diese Entwicklung schon viel weiter fortgeschritten. Deshalb hat Boris Johnson erneut Ausgangsbeschränkungen verhängt. Und wenn es vorerst keinen Durchbruch geben sollte?Wenn man nicht davon ausgeht, dass wir in der unmittelbaren Zukunft einen Impfstoff entwickeln werden, ist es sehr schwierig, Vorhersagen zu irgendetwas abzugeben. Notenbanken haben weltweit die Geldpolitik gelockert, selbst in Ländern wie Indonesien. Sie werden angesichts der nie dagewesenen Rezession die Staatsfinanzierung weiter unterstützen müssen, um ein Überleben der Wirtschaft sicherzustellen, während es zu regionalen Lockdowns kommt. Wird die Bank of England versuchen, die Zinskurve zu kontrollieren?Das tut sie bereits. Das kurze Ende ist unterstützt und die Bank of England kauft weiter entlang der Zinskurve. Zu einem gewissen Grad kontrolliert sie damit die Laufzeitstruktur der Zinssätze und stellt die nötigen Finanzierungsbedingungen sicher. Das ist aus meiner Sicht das Entscheidende für alle Zentralbanken. Ihre primäre Funktion ist, jede Verschärfung der Finanzierungsbedingungen zu vermeiden. Das ist ein ganz anderes Problem, als die, mit denen sie normalerweise zu tun haben. Wieso das?Wir haben es nicht mit einer gewöhnlichen Rezession zu tun. Der Abschwung wird durch einen völligen Zusammenbruch der Nachfrage bewirkt. In den Einkaufsmanagerindizes spiegelt sich wider, dass Dienstleistungen eine immer größere Rolle spielen. Wenn man Bars und Restaurants schließt und Konzerte und Sportveranstaltungen untersagt, hat das große Auswirkungen auf die Branche. Die Bank of England wird ihr Anleihenkaufprogramm aufstocken müssen. Und was passiert auf dem Kontinent?Wenn man sich die Defizite in der Eurozone ansieht, sind es nicht länger nur Spanien und Italien, die einen erheblichen Verschuldungsgrad aufweisen. In Frankreich und Belgien haben die Staatsschulden bereits 100 % des BIP erreicht und steigen rasant weiter. In Deutschland, Österreich und den Niederlanden wurde diese Grenze noch nicht überschritten, aber im restlichen Europa, insbesondere in den entwickelten Ländern, hat man fast überall schon dreistellige Werte erreicht, die weiter steigen. Die Zentralbanken werden diese Schulden aufsaugen müssen, bis wir wieder Wachstum auf einem normalen Niveau in den europäischen, nordamerikanischen und asiatischen Volkswirtschaften erreichen. Und das kann Jahre dauern. Es wird also monetäre Staatsfinanzierung geben und das ist auch gut so.Ich habe nicht gesagt, dass es eine gute Sache ist. Aber wenn man sich Italien mit einem Defizit von 10 % oder 11 % und einer Verschuldung von 140 % des BIP ansieht, ist klar, dass man so etwas ohne die EZB nicht finanzieren kann, ohne dass die Zinsen nach oben schießen. Man tut das, um an den Finanzmärkten für europäische Staatsanleihen so etwas wie Liquidität und Stabilität aufrechtzuerhalten, bis die Krise vorbei ist. Die EU hat die Haushaltsprinzipien aus dem Stabilitätspakt vorerst aufgegeben, wird das aber noch verlängern müssen, denn es ist schwer vorstellbar, dass die Defizite schnell wieder auf ein handhabbares Niveau zurückgefahren werden können. Wie kommt man aus der Krise wieder heraus?Vor der Krise lag das Wachstum in Europa vielleicht bei 1 %, die Inflation ebenso bei 1 %. Das nominale Wachstum belief sich auf 2 %, vielleicht 2,5 %. Optimistisch betrachtet ist das anämisches Wachstum. Es ist schwer vorstellbar, wie Europa durch eigenes Wachstum diese Krise und das hohe Schuldenniveau überwinden will. Das ist ein finsteres Szenario.An irgendeinem Punkt in der Zukunft wird sich der Verschuldungsgrad stabilisieren und man kann die Defizite reduzieren und mit dem Schuldenabbau beginnen. Aber es ist derzeit schwer vorstellbar, wie es dazu kommen könnte. Was ist in der Zwischenzeit zu tun?Die EZB, die Fed, die Bank of England und andere Notenbanken werden mehr QE betreiben müssen, um ihre Volkswirtschaften zu stützen. Das wird allgemein akzeptiert. Selbst Jens Weidmann hält es, wenn auch nicht aus ganzem Herzen, für unumgänglich, bis wir einen Impfstoff finden und einen Ausweg sehen. Wir müssen da durchkommen, die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt so gut wie möglich unterstützen. Wie sieht es in Großbritannien aus?Dort sind immer noch 3,5 Millionen Menschen im Zwangsurlaub. Große Arbeitgeber haben Massenentlassungen angekündigt. Wenn die Lohnsubventionierung durch die Regierung endet, wird die Arbeitslosigkeit in Großbritannien deutlich steigen. Die Staatsausgaben werden steigen und die Steuereinnahmen wackeln, weil Dienstleistungen eine so große Rolle spielen. Das Defizit wird also für einige Zeit bleiben. Der einzige Weg, um das zu finanzieren, ist der Kauf eines Großteils der Schulden durch die Zentralbank. Das wird auch so bleiben, bis es im Kampf gegen das Virus zu einem Durchbruch kommt. Wer soll das bezahlen?Die interessante Frage ist: Wo geht der Druck hin? In der Vergangenheit hatte es Auswirkungen auf die Währung, wenn Zentralbanken ihre Bilanz ausweiteten und Zinsen senkten. Aber weil es alle machen, sind die Währungen vergleichsweise stabil geblieben. Das Pfund wird durch den Brexit belastet, aber alles in allem gibt es sehr wenig Volatilität, insbesondere was die Industrieländer betrifft. Durch dieses Ventil kann der Druck also nicht entweichen. Wodurch könnte sich das ändern? Das ist für uns die entscheidende Frage. Könnte es zu einem überraschenden Anstieg der Inflation kommen?Angesichts von Produktionslücken dieses Ausmaßes und steigender Arbeitslosigkeit wird es auf kurze Sicht wohl keine nachfragebedingte Teuerung geben. Es könnte allerdings etwas Inflation von der Angebotsseite kommen, etwa wenn die Energiepreise anfangen sollten zu steigen. Kein Grund zur Sorge also?Wenn die Volkswirtschaften einmal anfangen sich zu erholen, könnten sich Zentralbanken angesichts der ins System gepumpten Liquidität einmal Sorgen um Inflation machen. Aber davon sind wir Jahre entfernt. Die Hauptsorge für die Zentralbanken, insbesondere für die EZB, ist, dass die Teuerungsrate niedrig bis negativ ist. Sie müssen die Inflation nach oben drücken. Wie sich im vergangenen Jahrzehnt gezeigt hat, ist es schwierig für die EZB, für Preisauftrieb zu sorgen. In Großbritannien haben wir das durch die Abwertung des Pfunds geschafft. Inflation ist derzeit keine große Sorge für Zentralbanken. Sie sind aber extrem wachsam, wenn es um Deflation geht. Wie geht man in den USA damit um?Die Fed sieht das Risiko asymmetrisch und hat keine Probleme damit, die Inflation heißlaufen zu lassen, wenn das die aktuellen Probleme lösen hilft. Dabei wandelt sie auf einem schmalen Grat. Denn wenn man einmal bei 2,0 % oder 2,5 % angekommen ist, wie stellt man dann sicher, dass die Teuerungsrate nicht noch weiter steigt? Das Interview führte Andreas Hippin.