TECHNISCHE ANALYSE

Wie tief der Dax jetzt noch fallen kann

Von Jörg Scherer *) Börsen-Zeitung, 18.3.2020 Die Allzeithochs an den internationalen Aktienmärkten liegen weniger als einen Monat zurück - doch derzeit wirkt es, als seien seither Jahre vergangen. Denn die allermeisten der weltweiten...

Wie tief der Dax jetzt noch fallen kann

Von Jörg Scherer *)Die Allzeithochs an den internationalen Aktienmärkten liegen weniger als einen Monat zurück – doch derzeit wirkt es, als seien seither Jahre vergangen. Denn die allermeisten der weltweiten Aktienbarometer haben inzwischen nicht nur die längste Hausse der Geschichte beendet, sondern sind nahtlos in den freien Fall übergegangen. Wo befinden sich die nächsten Unterstützungen? Welche Marken sind jetzt wichtig? Wie tief kann der Dax noch fallen? Auf all diese Fragen versuchen wir im Folgenden Antworten zu finden:Zu Wochenbeginn musste der Dax das gefühlt x-te Abwärtsgap im Verlauf des Ausverkaufs der letzten Wochen hinnehmen. Die Masse an Kurslücken signalisiert, dass die gegenwärtige Marktentwicklung eindeutig von der Psychologie beherrscht wird. Unsicherheit und Panik sind derzeit die dominierenden Einflussfaktoren. Kein Wunder vor dem Hintergrund, dass sich die Kursverluste seit dem Allzeithoch von Mitte Februar bei 13 795 Punkten mittlerweile in der Spitze auf 5 500 Punkte bzw. 40 % belaufen. Bislang schnellster AbverkaufZur Verunsicherung der Investoren trägt sicherlich die Dynamik des Abwärtsimpulses bei. Niemals zuvor musste der Dax in seiner Historie seit 1988 in so kurzer Zeit einen schärferen Kursverfall verkraften. Auf Tagesbasis kam es in der vergangenen Woche zum zweitgrößten Verlust der Geschichte – nur der 16. Oktober 1989 bescherte Anlegern mit -13 % ein größeres Tagesminus. Beide Entwicklungen sorgen im Zusammenspiel mit dem jüngsten Dax-Verlaufstief bei 8 256 Punkten dafür, dass der VDax-New auf einen neuen Rekordwert gesprungen ist. Das Volatilitätsbarometer hat mit einem noch nie dagewesenen Wert von 93 also das Hoch der Finanzmarktkrise vom Oktober 2008 übersprungen. Die deutschen Standardwerte befinden sich somit im Panikmodus.Angst ist aber selten ein guter Ratgeber. Deshalb ist in der aktuellen Marktphase Sachlichkeit von besonderer Bedeutung. Anleger sollten die derzeit extrem schwankungsintensive Phase vielmehr als Chance begreifen. Um das zu untermauern, haben wir alle Volatilitätsspitzen des VDax-New der vergangenen 13 Jahre untersucht. Investoren, die alle “Vola-Spikes” seit 2008 konsequent zum Dax-Einstieg genutzt hätten, wären bei einer Haltedauer von zwölf Monaten in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle mit deutlichen Kursgewinnen belohnt worden – oftmals sogar in einer Größenordnung von über 20 %. Doch einen “free lunch” stellt auch diese Auswertung nicht dar, denn ein Engagement nach dem Vola-Spike von Anfang 2018 hätte auf Jahressicht ein Kursminus von rund 7 % eingebracht. Dennoch: Wer solche “Hochvolatilitätsphasen” konsequent und systematisch nutzt, sollte langfristig profitieren – auch wenn dieser Investmentansatz von Anlegern gute Nerven und ein hohes Maß an Selbstdisziplin verlangt. Überall ExtremwerteZur sachlichen Einordnung der aktuellen Lage hilft auch eine objektive Auswertung anhand der technischen Kriterien Momentum, 200-Tages-Linie und Relative Stärke nach Levy. Anhand dieser Bewertungsmaßstäbe überprüfen wir regelmäßig für die wichtigsten Anlageregionen – Deutschland, Europa und USA – wie viele Einzelwerte sich in Aufwärtstrends befinden. Für die 160 deutschen Standardwerte aus Dax, MDax und SDax weisen gemessen am Momentum gerade noch 2,5 % eine Haussephase auf. 4,4 % notieren oberhalb ihres Durchschnitts der vergangenen 200 Tage, und nur noch historisch niedrige 0,6 % verfügen über eine Relative Stärke von größer als 1. Das sind absolut “ausgebombte” Werte, die ihresgleichen suchen.Das identische Bild zeigt sich für die europäischen Blue Chips sowie die Titel des S&P 500. Wenn die Nacht am schwärzesten ist, dann ist bekanntermaßen der Tag nicht mehr fern. Die Marktbreite erweckt mittlerweile diesen Eindruck. Wie extrem die charttechnische Ausgangslage geworden ist, möchten wir anhand eines weiteren Maßstabes untermauern. So notiert der Dax inzwischen über 30 % unterhalb seiner 200-Tages-Linie (diese liegt aktuell bei 12 552 Punkten). Ein solch historisch großer Abstand zur meistbeachteten Glättungslinie wurde in der Vergangenheit nur während der Finanzmarktkrise und nach dem Platzen der Technologieblase zu Beginn des Jahrtausends erreicht.Kommen wir zur Frage zurück, wie tief schließlich tief genug sein wird. Der Monatschart des Dax liefert dafür Anhaltspunkte. Das jüngste Verlaufstief bei 8 256 Punkten lotet im Langfristchart ein massives Unterstützungsbündel aus. So markiert das Tief vom Oktober 2014 bei 8 355 Punkten den Auftakt zur Kumulationszone aus den alten Ausbruchsmarken von 2007 und 2000 bei gut 8 152/8 136 Punkten sowie dem langfristigen gleitenden Durchschnitt der vergangenen 200 Monate (aktuell bei 8 014 Punkten).Mit dem Basisaufwärtstrend seit 1982 (aktuell bei 7 562 Punkten) steht knapp darunter eine weitere wichtige Rückzugslinie zur Verfügung. Aufgrund der dramatischen Kursverluste, der extrem überverkauften Marktverfassung sowie der Bedeutung der angeführten Unterstützungen tendieren wir auf dieser Basis (zunächst) zu einer technischen Reaktion. Die alten Ausbruchsmarken könnten also durchaus zur Beruhigung der Anlegernerven beitragen. *) Jörg Scherer ist Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland.