IM INTERVIEW: JOHANNES REICH, METZLER

"Wir sind in eine Resonanzkatastrophe geraten"

Der Corporate-Finance-Partner der Bank über die fehlende Moral von Negativzinsen und schlechte Werbung für den Investitionsstandort Deutschland

"Wir sind in eine Resonanzkatastrophe geraten"

Warum Negativzinsen unmoralisch sind, und warum er sich Sorgen um den Standort Deutschland macht, gibt der persönlich haftende Partner des Bankhauses Metzler, Johannes Reich, der Börsen-Zeitung im Interview zu Protokoll.- Herr Reich, wir haben uns an Negativzinsen und Negativrenditen gewöhnen müssen. Nun gab es zuletzt einen deutlichen Renditeanstieg an den Anleihemärkten. Ist der Spuk also bald vorbei?Dass dieser Spuk, wie Sie die extreme Verwerfung negativer Zentralbankzinsvorgaben nennen, bald endgültig Vergangenheit ist, glaube ich heute noch nicht, selbst wenn gerade ein kurzes Anziehen der Renditen zu verzeichnen gewesen ist. Bislang war das nur ein kurzes Zucken im langen dramatischen, abwärts gerichteten Gesamttrend.- Sie sind bei Metzler unter anderem für den Bereich Corporate Finance verantwortlich. Wie beurteilen Sie die Auswirkungen der Null- und Negativzinspolitik?Ein zu großer Teil der Deutschen hat bereits die Zinseszinsrechnung nicht verstanden. Es dürfte für viele noch schwieriger sein, sich eine Negativzinsrechnung in all ihren Konsequenzen vorzustellen. Eine wachsende Mehrheit scheint zu meinen, Finanzthemen seien ein magischer Bereich, den man nicht verstehen kann und auch nicht verstehen muss. Die Zentralbankpolitik, die letztlich diese Zinspolitik zu verantworten hat, lässt mich fast schon verzweifeln. Es dominiert eine fast schon uniforme internationale Denkschule, eine dogmatische Monokultur, in der die Politik in gewichtiger, teils informeller, teils formeller Rolle mitspielt, auf Teufel komm raus. Die Phase, in die wir jetzt hineingleiten, wirkt wie eine Phase vor dem heraufziehenden Sturm, so empfinde ich das.- Also kommt es früher oder später zu einem Anpassungsschock?Deutschland lässt sich nicht vom Rest der Welt entkoppeln, wirtschaftlich wie politisch. Das Land hat seit 2005 sehr viele und sehr weitreichende Schritte in Richtung staatlicher Steuerung, Regulierung und Staatskonsum sowie eine geradezu dramatische Anti-Markt-Politik gemacht, die alle zusammen die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität der deutschen Wirtschaft zunehmend verschlechtern. Wenn Deutschland wegen angeblicher Austeritätspolitik gleichzeitig als die größte Gefahr für die Weltwirtschaft geschmäht wird, muss es schlecht bestellt sein um die Weltwirtschaft. Es fehlt allerorten am Willen und zunehmend wohl auch an der Fähigkeit, einen vernünftigen, verantwortungsfundierten Ordnungsrahmen zu gestalten und zu verteidigen. Überdies wird immer lauter allerorten eine Art Merkantilismus gepredigt, also staatliche Lenkung bis ins Kleinste und gleichzeitige Abschottung der nationalen Wirtschaft, einhergehend mit einer opportunistischen Fundamentalkritik an der globalisierten Ökonomie. Diese Bewegungen, ganz gleich, ob sie sich links oder rechts geben, banalisieren und romantisieren – und das ist sehr euphemistisch formuliert.- Das lässt sich anders sehen: Die Bundesbank deckt sich etwa nicht mit der EZB-Mehrheitsmeinung, die Verschuldung Deutschlands liegt im Rahmen, eine Abschottung ist nicht im Gang – zumindest in der Asylpolitik.Die Bundesbank hat effektiv doch leider so gut wie keinen Einfluss. Und die von Ihnen angesprochene Asyl- und Flüchtlingspolitik ist planlos, wirkt kopf- und hilflos. Plötzlich will Deutschland Quoten in Europa und sogenannte europäische Lösungen, die zuvor abgelehnt oder ignoriert worden sind. Das ist Ausdruck innerparteilichen Drucks. Die etablierten Parteien haben Forderungen populistischer Art erst einmal nur Schwäche entgegenzusetzen, und das strahlt auch auf die Wirtschaftspolitik ab. Die Stimmengewinne der AfD signalisieren eine Schwächung von Kanzlerin Merkel. Eine Kanzlerin, die keinen Spielraum hat, ist nicht mehr Herrin im Haus. Das ist schlecht, nach dem Brexit-Referendum muss sich die Machtbalance in Europa neu austarieren und die Europa-Politik neue Orientierung finden. Es gibt derzeit überall geschwächte Regierungen, außer offenbar in Ländern mit autokratischen Tendenzen. Eine fatale Entwicklung.- Um wieder auf das Thema Negativzins zu kommen: Gibt es nicht einen paradoxen Effekt, dass die EZB durch Negativzinsen den Konsum ankurbeln will, dadurch aber eher Unsicherheit schafft, was die Ausgabenfreude bremst?Die Maßnahmen der EZB sind paradoxerweise zunehmend die Ursache für das, was sie zu bekämpfen vorgeben. Das verstehen inzwischen immer mehr, bis auf die Notenbank selbst. Um im Alter so viel zu haben, wie mit einem Zins von 3 % pro Jahr gespart worden wäre, müssen Sie rein rechnerisch und auch intuitiv gesprochen heute deutlich mehr sparen als früher. Je mehr Sie aber sparen, desto negativer wird der Zins. Wir sind hier inzwischen in eine Resonanzkatastrophe geraten. Diesen Teufelskreis hat neben nicht wenigen anderen auch Herr Draghi zu verantworten, weil sie sich nicht vorstellen wollen oder können, dass ihre Wahrheit keine ist. Viel bedeutsamer und in seiner Wirkung weitreichender als die konkrete Höhe der Zinsen ist aber unser moralisches Scheitern. Negativzinsen bedeuten, dass alles, was heute Zukunft ist, wertloser gemacht wird, als es jetzt ist. Das ist die Übersetzung: eine biblische Katastrophe.- Warum?Die Menschheit ist nicht darauf eingerichtet, dass das Künftige weniger wert ist als das Heutige. Wirtschaft ist Psychologie. Es gab am 30. Oktober einmal den Weltspartag, und ganze Generationen wurden so erzogen: Ein Bauer spart einen Teil der Ernte, um später damit säen zu können. Heute fehlt Sparen wie das Säen. Man lebt von der Substanz, behauptet aber, die Gerechtigkeitslücke sei zu groß. Ein Politiker versucht, den nächsten zu übertrumpfen, und da die Substanz schrumpft, “leiht” er es sich von der nächsten Generation, ohne die Absicht, es zurückzugeben. Irgendwann ist der Bogen überspannt. Die Stimmung wird schon aggressiv. Und in diese hinein stellt sich Herr Draghi und verordnet martialisch ,Whatever it takes`, und ,Wir werden noch weitere unorthodoxe Maßnahmen treffen`. So wird der Sturm aufziehen.- Wird die EZB Ihrer Meinung nach bald auch Aktien kaufen?Das kann niemand ausschließen. Wenn die jetzige Entwicklung noch eine Weile anhält, garantiert. Der Aktienmarkt ist jetzt schon verzerrt, auch aus Anlagenotstandsgründen ist er schon aufgeblasen. Es gibt keine Assetklasse mehr, die nicht bereits von der Geldschwemme infiziert worden wäre. Und jetzt will Herr Draghi noch mehr Viren hineinspritzen. Es wird von Helikoptergeld schwadroniert. Das ist dreist. Die Begründung dafür ist, dass die Regierungen nichts tun. Ein wechselseitiges Schwarzer-Peter-Spiel. Im Grunde genommen igeln sich aber alle nur ein in ihren vermeintlichen Einflussbereichen.- So wie Sie das beschreiben, macht einem das geradezu Angst vor dem Sturm, den Sie an den Horizont malen.Ich glaube, Angst ist der falsche Begriff. Es ist eine Art Gemütszustand, eine empfundene Überforderung. Sie ist überall greifbar. Die Medien, die Politik, Behörden, Verwaltungen, Gerichte, sehr ausgeprägt die Banken, als Nächstes dann auch die Versicherer sowie die Automobilindustrie in Deutschland, die Energiebranche, dann der Anlagen- und Maschinenbau wegen der Umbrüche der Digitalisierung – alles Branchen und Bereiche und mittendrin Menschen, die überfordert sind. Da man sich überall an den Glauben von vollständiger Steuerung, Kontrolle, Sicherheit und Machbarkeit klammert, dieser Glaube aber Illusion ist und das erkennbare Gegenteil des Erhofften bewirkt.- Das könnte einen Lernprozess beinhalten, denn die Welt endet ja nicht morgen.Um zu lernen, braucht man eine tiefe Grundempfänglichkeit, Lernwilligkeit, Fehlertoleranz. Das ist nicht gegeben. Die Systeme sind nicht mehr fehlertolerant. Die EZB ist – wie nicht wenige andere – mit einem Unfehlbarkeitsdogma unterwegs, hat jedoch kaum noch funktionsfähige Instrumente; was soll noch kommen? Die EZB ignoriert, dass deflatorische oder antiinflatorische Tendenzen aufgrund der tieferliegenden Ursachen nicht dadurch beseitigt werden, dass den Leuten gesagt wird, konsumiert und spart nicht. Auch werden weder der Euro noch die EU dadurch gerettet, dass man Leistungsbilanzüberschüsse oder Produktivitätserfolge glaubt verbieten oder von oben zentral planen zu können. Kann es nicht sein, dass das schwache Wachstum daran liegt, dass strukturelle Veränderungen in die falsche Richtung gehen?- Wie meinen Sie das?Die Unternehmen investieren nicht mehr in Europa. Die Zeichen im Welthandel stehen auf Rückwärtsentwicklung, die Devisenhandelsvolumen sind ebenfalls leicht rückläufig, der Freihandel wird infrage gestellt, gar verteufelt. Als Investor würde ich so gesehen nur mit Bauchschmerzen auf Deutschland setzen, denn das Land ist stark vom Welthandel abhängig. Und Deutschland geht einen Weg des halbherzigen Protektionismus und einer halbherzigen Umverteilung.- Es könnte auch hermetisch abgeriegelt sein.Halbherziger Protektionismus bedeutet, ich steche den Bären ein bisschen. Aber viele Länder stehen ja vor einer vergleichbaren Problematik. Die Antwort heißt darum, möglichst über die verschiedenen Assetklassen zu diversifizieren, auch regional. Und um noch einmal die Negativzinsen aufzunehmen: Für eine kurze Weile, quasi aus Versehen, könnte auch eine nominale Negativzinspolitik als warnender Schuss vor den Bug dienen. Aber dies länger zu machen und zu wollen, ist zutiefst unmoralisch. Völlig unerheblich, was die EZB als Begründung anbietet, ich akzeptiere keine einzige, weil sie dem Verstehenkönnen und der ganzen Anthropologie widerspricht. Ich übertrage das psychotheoretisch nur als Idee: Wo ist die Vorsorge für die Zukunft? Wird sie deformiert in eine Sorge vor einer Zukunft, die wir nicht mehr gestalten werden können? Die aus dieser bedrohlichen Frage resultierende Verantwortung muss endlich erkannt werden.- Es gibt keinen Ausweg?Im Moment laufen wir, wenn wir nicht aufpassen, in eine Legitimationskatastrophe hinein, denn alle wollen ihr Geld und sich selbst irgendwie in Sicherheit bringen. Sich zu verschulden, ist aus Sicht der Zentralbank gewünscht und gut. Gleichzeitig aber sollen die Schuldenrisiken reduziert werden, man darf nicht mehr Kredite aufnehmen, die Banken werden von der Aufsicht dafür bestraft, müssen mehr Kapital für Kredite hinterlegen. Die EZB erlaubt in ihrem Stressszenario keine negativen Zinsen. Das wirkt entrückt, wie ein Ausdruck einer gespaltenen Persönlichkeit – auch, weil die Notenbank die Banken überwacht. Leute, die sparen, für ihre Kinder, für das Alter oder um sich eine Eigentumswohnung zu kaufen, werden enteignet. Wir haben bereits eine Immobilienblase. Sie wächst weiter, und es ist sicher nicht die einzige. Die Briten wollen aus der EU austreten, in Spanien steht bereits die dritte Wahl an, ohne dass eine Regierungsbildung möglich geworden wäre, die EU-Mitglieder halten sich nicht an ihre eigenen Verträge, überall blüht der Separatismus und der Isolationismus, 50 % Jugendarbeitslosigkeit haben wir in Südeuropa, die Demokratie wird dysfunktional.- Was bedeutet dies mit Blick auf Investitionsentscheide, die einen Zeitraum von zehn, fünfzehn Jahren haben?Das ist schwer zu beantworten, das hängt davon ab, wohin jemand schaut. Ist es jemand, der hier lebt, hier Steuern zahlt, ist es ein einheimischer institutioneller Investor oder ein ausländischer Investor? Ich mache mir Sorgen, wenn ein zehnjähriges Jubiläum für den Spatenstich am Flughafen Berlin gefeiert wird, ohne dass er fertig ist, und ich mache mir Sorge um die Art und Weise, wie die Politik damit umgeht. Das Gleiche gilt im Zusammenhang mit der Asyl- und Einwanderungspolitik. Das sind eklatante Belege politischer Lähmung, die nicht an intellektueller Unfähigkeit liegt, sondern an wechselseitiger Abhängigkeit, an Verkrustung, an Mangel an Redlichkeit und auch an Bequemlichkeit, übersteigertem Sicherheitswahn und Verantwortungsverweigerung.- Sie meinen, das schreckt Investoren ab?Es ist zumindest keine Werbung für den Investitionsstandort. Wenn ich ein Investor aus dem Ausland wäre und mir überlegen würde, in welche deutschen Werte ich investieren soll, etwa in Aktien, dann hätte ich zunehmend Bedenken. Und passt es nicht ins Bild, dass, trotz sehr an deutscher Technologie interessierter Chinesen, Direktinvestitionen und der Wert der Unternehmenskäufe in Deutschland zurückgehen, während das Volumen der von deutschen strategischen Investoren im Ausland getätigten Unternehmenskäufe Rekorde verzeichnet? Die Güte der vermeintlich deutschen Tugenden und die heute tatsächlich gelebten Tugenden weichen augenscheinlich stark voneinander ab. Deutschland steigt großflächig aus der Kraftwerkstechnologie aus, das Transportflugzeug A400 funktioniert nicht, Weltunternehmen und Vorzeigebranchen geraten in existenzielle Vertrauenskrisen, und einen Hauptstadtflughafen oder Großbahnhof schaffen wir auch nicht. Wir verteufeln nicht nur die Gentechnik oder Freihandel, wir beginnen die Marktwirtschaft zu verteufeln und die Freiheit des Andersdenkenden – die Grundpfeiler unseres Wohlstandes. Das ist alles nicht vernünftig, zunehmend unberechenbar. Als Investor will ich aber in einer Region anlegen, die vernünftig und berechenbar ist.—-Das Interview führte Dietegen Müller.