Wird das zweite Halbjahr die Stunde des Goldes?
Technische Analyse
Wird das zweite Halbjahr die Stunde des Goldes?
Von Jörg Scherer*)
Die Hälfte des Investmentjahrgangs 2023 liegt schon wieder hinter uns. Damit ist es nicht nur Zeit für eine erste Bilanz, sondern auch für eine Bestandsaufnahme der weiteren Chartperspektiven des Goldpreises. Von den zwischenzeitlichen Kursgewinnen – inklusive eines Tests des Allzeithochs bei 2.072 Dollar – konnte das Edelmetall noch gut 100 Dollar bzw. knapp 6% sichern. Was wird die zweite Jahreshälfte bringen? Weiter im Korrekturmodus oder gelingt ein neuer Anlauf auf die bisherigen Rekordstände? Wir begeben uns auf eine charttechnische Spurensuche.
Beim Blick in die „große Glaskugel“ hat es uns der Jahreschart des Goldpreises besonders angetan. Da sich die ganz großen Trends auch hier niederschlagen, zählt die Analyse des Jahrescharts zu unseren absoluten Pflichtaufgaben. Eines unserer Kernargumente aus unserem Jahresausblick besitzt hier weiterhin seine Gültigkeit.
„Outside year“
So hat der Goldpreis 2022 ein „outside year“ ausgeprägt. D. h. im vergangenen Jahr stand im Vergleich zu 2021 ein höheres Hoch und gleichzeitig ein tieferes Tief zu Buche. Bildlich gesprochen wurden 2022 die Grenzen des Vorjahres gesprengt. Ein solcher Außenstab besitzt in der technischen Analyse eine besondere Bedeutung. Oberhalb der Marke von 2.070 Dollar entsteht deshalb nochmals ein prozyklisches Kaufsignal, zumal dieses Level bestens mit dem Allzeithoch vom August 2020 bei 2.072 Dollar harmoniert und exakt hier auch das bisherige Jahreshoch 2023 ausgeprägt wurde (siehe Chart). In der höchsten aller Zeitebenen ist noch ein anderer Aspekt wichtig. Auf ausgeprägte Trendphasen folgen regelmäßig Kontraktionsperioden mit deutlich geringeren Schwankungen und umgekehrt. Ein Lehrbuchbeispiel für dieses Verhaltensmuster liefert derzeit der Goldpreis.
Untertassen-Formation
In der ersten Dekade des neuen Jahrtausends befand sich das Edelmetall in einer massiven Hausse, welche 2011 in einem zyklischen Hoch bei 1.920 Dollar und in zwölf positiven Jahreskerzen in Serie gipfelte. Seither gilt eine mehr als zehnjährige Konsolidierungsphase, welche bei einem Spurt über die oben genannten Hochs von 2022/2020 endgültig abgeschlossen wäre. Die große Frage ist also, ob die gegenwärtige Verschnaufpause langfristig den Grundstein für den nächsten Trendimpuls legt. Als Trigger dafür dienen die bereits mehrfach herausgearbeiteten Schlüsselmarken bei 2.070/2.072 Dollar und damit ein Vorstoß in „uncharted territory“. Um die Relevanz dieser Signalzone zu dokumentieren, haben wir noch einen weiteren argumentativen Pfeil im Köcher. Schließlich kann die gesamte Kursentwicklung seit 2011 übergeordnet als „Untertassen-Formation“ interpretiert werden. Traditionell gehen wir auch auf saisonale Aspekte ein. Angelehnt an den US-Präsidentschaftszyklus haben wir deshalb untersucht, wie sich der Goldpreis typischerweise in Vorwahljahren der USA entwickelt. Als Datenbasis dienen dabei alle Vorwahljahre seit den 1970er Jahren. Anhand dieses Verlaufsmusters lässt sich die aktuelle Verschnaufpause gut erklären. Doch mit dem Halbjahreswechsel schaltet das Edelmetall wieder einen Gang hoch. Im Durchschnitt beschert das Vorwahljahr Goldinvestoren – bei einer Trefferquote von 69% – sogar ein deutlich zweistelliges Kursplus. D. h., 9 der 13 Vorwahljahre seit 1971 konnte der Goldpreis mit Kursgewinnen beenden. Im Ergebnis stellt das Vorwahljahr unter saisonalen Gesichtspunkten den zweitbesten Teilabschnitt innerhalb des vier Jahre umspannenden US-Wahlzyklus dar.
2.070/2.072 Dollar als Katalysator
Bleibt die Frage, wie es bei einem Abschluss der besonderen Untertassen-Formation weitergeht. Aus der Tiefe des zwischenzeitlichen Einschnittes von 2011 bis 2015 ergibt sich im Erfolgsfall ein Anschlusspotenzial von 900 Dollar. Selbstredend, dass es sich bei einem Kursziel von knapp 3.000 Dollar keinesfalls um das 2023er Ziel, sondern vielmehr um ein langfristiges Anlaufziel handelt. Wenn es noch eines Beweises für die Bedeutung der entscheidenden Widerstände bei 2.070/2.072 Dollar bedurft hätte, der Quartalschart liefert ihn. Hier kann die Kursentwicklung seit Mitte 2020 als Schiebezone zwischen besagten 2.072 Dollar auf der Ober- und knapp 1.700 Dollar auf der Unterseite interpretiert werden. Der markante Docht der aktuellen Quartalskerze belegt nochmals die Wichtigkeit der diskutierten Hürden. Im Ausbruchsfall ergibt sich – abgeleitet aus der Höhe der oben genannten Trading Range – ein Anschlusspotenzial von rund 400 Dollar. Im Umkehrschluss führt dieses trendbestätigende Chartmuster zu einem ersten, mittelfristigen Etappenziel von knapp 2.500 Dollar.
Der „Katastrophenstopp“
Aber auch unter Risikogesichtspunkten liefert der Quartalschart eine wichtige Orientierungshilfe. Von strategischer Bedeutung ist die Haltezone aus den Tiefs bei knapp 1.700 Dollar und dem Fünf-Jahres-Durchschnitt (aktuell bei 1.674 Dollar), denn unterhalb dieses Auffangbereiches würde die oben genannte Schiebezone in eine Topbildung umschlagen. Die „Pflicht“ hat der Goldpreis – dank eines Anlaufs auf die bisherigen Hochstände – erfüllt, die „Kür“ beginnt jenseits des Deckels bei 2.070/2.072 Dollar. Mit dem zyklischen Rückenwind des zweiten Halbjahres dürfte ein möglicher Ausbruch auf fruchtbaren, saisonalen Boden fallen.
*) Jörg Scherer ist Leiter technische Analyse bei HSBC Deutschland.