DEVISENWOCHE

Wohin treibt die Lira?

Von Daniel Winkler *) Börsen-Zeitung, 28.8.2018 Die Talfahrt der Lira in den vergangenen Wochen war rasant. Nach der Abwertungsdynamik, die in Sachen Geschwindigkeit (angetrieben von der unbegründeten Sorge um Ansteckungseffekte auf andere Emerging...

Wohin treibt die Lira?

Von Daniel Winkler *)Die Talfahrt der Lira in den vergangenen Wochen war rasant. Nach der Abwertungsdynamik, die in Sachen Geschwindigkeit (angetrieben von der unbegründeten Sorge um Ansteckungseffekte auf andere Emerging Markets oder gar die Weltwirtschaft als Ganzes) überzogen war, folgt aktuell eine leichte Stabilisierung. Ist die Währungskrise damit bereits im Keim erstickt? Mitnichten! Die kosmetischen Eingriffe von Notenbank und Aufsichtsbehörde sind lediglich Symptombehandlungen und haben mit Ursachenbekämpfung wenig gemein. Neben der Anwendung falscher Instrumente wie der Beschränkung von FX-Swap-Geschäften kommt erschwerend hinzu, dass die Glaubwürdigkeit der Währungshüter massiv angeschlagen ist. Die regelmäßig geäußerten Zinswünsche der türkischen Staatsführung und die daraufhin quasi nicht stattfindende Geldpolitik haben die Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank unterminiert. Organisiertes FeuerwerkAngesichts einer Inflationsrate, die das Ziel der Notenbank (5 %) seit 2012 kontinuierlich übersteigt, sind die geldpolitischen Reaktionen der Zentralbank allesamt als ungenügend einzustufen. Mit rund 16 % ist die Steigerungsrate der Konsumentenpreise derzeit die höchste seit 2003. Ein fortgesetztes Versagen der Geldpolitik führt in den kommenden Monaten zu einer sich weiter beschleunigenden Inflationsrate. Zu einer verfehlten Notenbankpolitik gesellte sich 2017 ein staatlich organisiertes Konjunkturfeuerwerk. Garantien des türkischen Staates führten binnen Jahresfrist zu einer Verdopplung der Unternehmenskredite. Dazu kamen seit Herbst 2016 gelockerte makroprudenzielle Regeln.Insgesamt führten Fiskal- und Kreditimpulse 2017 im Vorfeld der diesjährigen Präsidentschaftswahlen zu einer BIP-Expansionsrate von 7,3 %; 2016 stand noch eine Drei vor dem Komma. Die Folge dieses kreditinduzierten Konjunkturfeuerwerks ist die Verschärfung von internen wie externen Ungleichgewichten, was wiederum dazu führt, dass die Türkei anfälliger für globale Veränderungen und exogene Schocks ist. Kennzeichnend für eine in Schieflage geratene bzw. überhitzte Wirtschaft sind insbesondere eine positive Produktionslücke, eine Inflation fernab des Ziels sowie ein sich vergrößerndes Leistungsbilanzdefizit. Erst recht toxisch ist die Lage aufgrund der Tatsache, dass die Türkei zusätzlich folgende Charakteristiken aufweist: a) begrenzte Devisenreserven, b) hohe Abhängigkeit von volatilen, kurzfristigen Kapitalflüssen, c) hohes FX-Exposure von inländischen Unternehmen und d) hoher ausländischer Finanzierungsanteil.Bei der gegenwärtigen Währungskrise sind neben einer desolaten Geldpolitik vor allem die sich verschlechternden externen Ungleichgewichte relevant, reflektiert in einer im Trend sinkenden Net International Investment Position (NIIP). Diese ist quasi die Bilanz der Türkei gegenüber dem Rest der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt (vgl. Grafik). Mit rund 53 % des BIP ist die türkische NIIP aber immer noch die niedrigste im G 20-Universum. Hauptverantwortlich für den Niedergang seit 2010 ist neben FX-Effekten das chronische Leistungsbilanzdefizit. Seit 2002 rangiert diese Bilanz ununterbrochen im negativen Terrain und ist aktuell mit über -6 % des BIP so hoch wie in keinem anderen Schwellenland.Das Defizit impliziert, dass die Ersparnisse geringer sind als die Investitionen. Die im Vergleich ungewöhnlich hohe gesamtwirtschaftliche Investitionsrate wurde maßgeblich vom Bausektor angetrieben. Grundsätzlich ist die Möglichkeit, dass private Haushalte, Unternehmen und der Staat durch internationale Verflechtung zusammen mehr kaufen können, als im eigenen Land produziert wird, als nutzenoptimierend zu bewerten. Allerdings muss ein Leistungsbilanzdefizit vom Ausland finanziert werden. Im Falle der Türkei geschieht dies unglücklicherweise nur zu einem geringen Teil durch Direktinvestitionen. Diese betrugen 2017 weniger als 1 % des BIP. Dagegen ist das Land auf volatile Portfolio-Flows angewiesen, die gegenwärtige versiegen. Sodann bleiben (theoretisch) Devisenreserven der Notenbank, um die Zahlungsbilanz aufrechtzuerhalten. Doch auch hier landet die Türkei, deren Reserven sich seit 2014 im Sinkflug befinden, im Vergleich weit abgeschlagen. Über die Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits ist der Schuldendienst nicht zu vergessen. Ein jährliches Roll-over-Volumen von rund 20 % des BIP bedeutet aufgrund eines hohen Hartwährungsanteils eine ausgeprägte Anfälligkeit. Hohe UngleichgewichteDie Faktenlage bedingt ein hinreichend hohes Vertrauen des Auslands in die Türkei. Dazu gehört eine unabhängige Zentralbank, die ihr Inflationsziel glaubhaft verfolgt. Beides ist derzeit nicht gegeben. In Kombination mit einer latenten politischen Unsicherheit und makroökonomischen Ungleichgewichten ist das Investorensentiment erschüttert. Noch haben die türkischen Währungshüter ein kleines Zeitfenster, um mittels signifikanter Leitzinserhöhungen den Märkten ein eindeutiges Signal zu senden und Schlimmeres zu verhindern. In diesem Falle sollte die Abwertungsgeschwindigkeit der Lira deutlich gedrosselt werden. Eine nachhaltige Abkehr vom Einbahnstraßenverkehr im Lira-Kurs erwarten wir in der kurzen bis mittleren Frist aufgrund der großen makroökonomischen Ungleichgewichte und der politischen Unsicherheit jedoch nicht.—-*) Daniel Winkler ist Finanzanalyst (FI/FX) beim Bankhaus Metzler.