NOTIERT IN SCHANGHAI

Zickzackkurse mit Kollateralschäden

Liu Junling ist einer von den für ihr überlegenes Tastgefühl geschätzten blinden Therapeuten, die bei der Administrierung der traditionellen chinesischen Massage einen besonders guten Ruf genießen. Und er scheint laut einer in chinesischen...

Zickzackkurse mit Kollateralschäden

Liu Junling ist einer von den für ihr überlegenes Tastgefühl geschätzten blinden Therapeuten, die bei der Administrierung der traditionellen chinesischen Massage einen besonders guten Ruf genießen. Und er scheint laut einer in chinesischen Staatsmedien verbreiteten Geschichte ein besonders gutes Händchen für den immer verrückteren chinesischen Aktienmarkt zu haben. Dies obwohl – oder vielleicht gerade weil – er als Blinder nicht andauernd wie besessen auf einen Bildschirm mit Kursdaten schauen kann.Herr Liu hat im Oktober letzten Jahres, als Chinas Mega-Börsenhausse noch am Anfang stand, einer Eingabe folgend seine Lebensersparnisse in Höhe von 270 000 Yuan (knapp 40 000 Euro) in den Kauf einer einzigen soliden Bankaktie gesteckt. Anfang Juni und damit kurz vor dem Platzen der Spekulationsblase ist er zum verdoppelten Kurs ausgestiegen. Das dabei verdiente Geld hat ausgereicht, um sich den lang gehegten Traum zu erfüllen, in der Heimatstadt seinen eigenen Massagesalon zu eröffnen. Alles richtig gemacht also: Happy End im chinesischen Börsendrama. *Für das Gros der chinesischen Kleinanleger im wilden Börsentreiben sind solche Geschichten mittlerweile unerträglich geworden, denn natürlich haben sie nicht alles richtig, sondern viel zu viel falsch gemacht. Der chinesische Aktienmarkt hat nämlich Tücken, die nur von denjenigen zu meistern sind, die entweder Nerven wie Drahtseile haben oder einfach unverschämtes Glück.In China sind handelstägliche Kursbewegungen für einzelne Aktien auf 10 % nach oben oder unten begrenzt. Man sollte meinen, dass dies die Anleger vor allzu verrückten Bocksprüngen bewahrt, doch schafft es in einem ultravolatilen Markt Engpässe bei den Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten. Neubörsianer treibt dies geradezu in den Wahnsinn. Wer den richtigen Zeitpunkt verpasst, muss zusehen, wie seine Aktien jeden Tag aufs Neue wieder vom Start weg 10 % fallen und der Markt für weitere Verkaufsorder geschlossen bleibt. So kann man tagelang hilflos beobachten, wie einem das Geld durch die Finger rinnt, bis man doch irgendwann einmal rauskommt.Wer dann nicht exakt den richtigen Zeitpunkt für den Wiedereinstieg findet, erlebt ein umgekehrtes Drama. Man kommt an die Wonneaktie nicht ran, weil sie jeden Tag vom Start weg schon um 10 % in die Höhe geschossen ist. Es ist wie auf einer deutschen Autobahn mit rasendem Verkehrstreiben bei viel zu kurzen Einfahrtsspuren und schlecht beleuchteten Ausfahrten. *Westliche Analysten lassen Prognosen vom Stapel, wie der Börsenboom die chinesische Wirtschaft beflügeln könnte oder das Platzen der Blase sie vollends aus der Spur bringt. Die haben da möglicherweise etwas nicht ganz richtig verstanden. Wer der chinesischen Wirtschaft etwas Gutes tun will, braucht ein völlig seitwärts gerichtetes lethargisches Börsengeschehen, um das sich niemand kümmert. Dann erst nämlich können sich rund 100 Millionen Menschen wochentäglich zwischen 9. 30 und 11. 30 Uhr sowie 13. 00 und 15. 00 Uhr, wenn an den Märkten in Schanghai und Shenzhen der Punk abgeht, ausnahmsweise mal wieder auf ihre Arbeit konzentrieren.Derzeit sieht es ein wenig anders aus. Der typische Schanghaier Büroangestellte versucht zu diesen Zeiten am Computer oder Smartphone zu kaufen, was das Zeug hält, oder zu retten, was zu retten ist. Er braucht die Mittagspause für das Aktienfachgespräch mit Kollegen statt zur Erholung und ist um 15 Uhr entweder so sehr in Partylaune oder so fertig, dass er für Arbeit nicht mehr zu gebrauchen ist.Den Abend verbringt man auf sozialen Medien, um über Gewinne zu prahlen oder über Verluste zu jammern und im Familienkreis darüber zu streiten, wessen dumme Ratschläge dafür sorgten, dass alles verloren oder nicht genügend herausgeholt wurde. Chinas Börsenrummel hinterlässt in erster Linie Habgier und Neid, Kummer und Streit sowie im Zweifelsfall hoffnungslos verspannte Nackenmuskulaturen, die nach einer beruhigenden Massage schreien. Herr Liu hat wirklich alles richtig gemacht.