Von Stefan Reccius, Brüssel

Als Parlamentspräsidentin Roberta Metsola das Ergebnis des zweiten Wahlgangs verkündet, klatschen viele EU-Abgeordnete. Der Mann, dem der Applaus gilt, nickt kurz, erhebt sich mitten im Plenum von seinem Platz, eine Umarmung links, eine Umarmung rechts. Schließlich verbeugt Marc Angel sich. Immer wieder senkt er dabei beide Arme von oben nach unten, eine Geste voller Demut und Zurückhaltung.

Seit Mittwochmittag ist der 59 Jahre alte Sozialdemokrat aus Luxemburg Vizepräsident des EU-Parlaments – einer von 14. Dass ausgerechnet seine Wahl Aufmerksamkeit im sonst eher unterbelichteten Parlamentsgeschehen erregt, liegt nicht so sehr an ihm selbst, sondern an seiner Vorgängerin Eva Kaili aus Griechenland. Die 44-Jährige steht im Zen­trum eines Korruptionsskandals, der das EU-Parlament im Dezember heimgesucht hat. Kaili sitzt deshalb inzwischen in einer Gefängniszelle statt im Parlamentsplenum.

Bei Durchsuchungen hatten belgischen Behörden sie und weitere Verdächtige spektakulär auf frischer Tat ertappt: Sie fanden in Brüssel Koffer voller Scheine – mutmaßlich Bestechungsgelder aus Katar. Schlimmer geht es nicht für eine Institution, die sich Transparenz auf die Fahnen geschrieben hat und um mehr Einfluss auf die Gesetzgebung in der Europäischen Union kämpft – nicht zuletzt um ein Initiativrecht, das ausschließlich der mächtigen EU-Kommission vorbehalten ist.

Wie die Parlamentarier zwischen Straßburg und Brüssel pendeln, so wabert ihre Arbeit seit der Festnahme Kailis zwischen Tagesgeschäft und Aufarbeitung. Gerade hat Parlamentspräsidentin Metsola Reformen angekündigt, um aus der Defensive zu kommen. Sie will etwa Parlamentarier verpflichten, sämtliche Treffen mit Dritten öffentlich zu machen, die in Verbindung mit ihrer Arbeit im Parlament stehen. Metsolas Devise: Künftig müssten „früher die Alarmglocken schrillen“.

Parallel treibt die Brüsseler Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen voran. Am Dienstag hatte die Behörde eine „wichtige Entwicklung“ mitzuteilen. Demnach will eine der „Schlüsselfiguren“ des Skandals auspacken: Der Italiener Pier Antonio Panzeri hat Kooperation zugesagt, um glimpflicher davonzukommen. Der 67-Jährige gilt als mutmaßlicher Drahtzieher und ist deshalb einer der Hauptverdächtigen im Korruptionsskandal. Bis 2019 saß er für die Sozialdemokraten im EU-Parlament.

Die inkriminierten Parlamentarier – ehemalige wie amtierende – kommen allesamt aus den Reihen der Sozialdemokraten. Kaili-Nachfolger Marc Angel muss im eigenen Lager ausmisten. Eine Rolle bei der Wahl spielt wohl seine Herkunft: Angel kommt aus Luxemburg und war dort 15 Jahre im Parlament. Das vor Malta zweitkleinste EU-Mitglied gilt nicht nur als Steuerparadies, sondern auch als vorbildlich in Sachen Unbestechlichkeit. Profiliert hat Angel sich seit seinem Einzug ins EU-Parlament 2019 als Sozialpolitiker und Kämpfer für Menschenrechte.

Für Angels deutschen Parteifreund Jens Geier geht ein echter Vorkämpfer gegen Korruption ans Werk. „Er hebt den Teppich und dreht ihn um, statt Dreck darunter zu kehren“, sagt Geier. Auch die Fraktionen der konservativen EVP und der liberalen Renew meinen offenbar, dass Angel das Zeug zum Aufräumer hat: Sie verhalfen ihm im zweiten Wahlgang zur absoluten Mehrheit gegen Kandidatinnen von den Grünen und der rechten ID-Fraktion. Oder wollen Konservative und Liberale bloß nicht mit ungeschriebenen Gesetzen brechen, wonach der Posten den Sozialdemokraten zusteht – Korruptionsskandal hin oder her?

Der neue Vizepräsident Angel gibt jedenfalls das Signal zum Anpacken. Am Nachmittag meldet er sich über den Kurznachrichtendienst Twitter „stolz“ zu Wort: „Jetzt beginnt die Arbeit.“ Dazu ein Daumen hoch.