Unterm Strich

Im Dornwald der Krisen

Krisen können heilsam sein, Chaos schöpferisch. Man muss nicht immer gleich nach dem alles regulierenden, aber Chancen vereitelnden Staat rufen.

Im Dornwald der Krisen

Wenn es Weihnachten nicht gäbe, müsste man es erfinden. Obwohl sich immer mehr Menschen von der Kirche abwenden, religiöse Bindungskräfte nachlassen, christliche Prägungen und Traditionen nicht mehr in die aufgeklärte westliche Welt zu passen scheinen, erfüllt das Weihnachtsfest für viele Menschen nach wie vor eine wichtige Funktion. Nicht als Mega-Ereignis des Geschenkekonsums und Fest für den Einzelhandel. Da gibt es mit Black Friday, Singles Day und anderen Kaufevents zeitgeistige Alternativen. Auch nicht als Auftakt der Weihnachtsferien oder Start in den Winterurlaub. Doch als Anlass zum Innehalten, zur Reflexion, zum Kräftesammeln in einer gefühlt immer krisenhafteren Welt scheinen die Weihnachtstage an Bedeutung eher noch zuzunehmen. Was Theodor Storm vor 140 Jahren in einem Gedicht formulierte: „Alt’ und Junge sollen nun – von der Jagd des Lebens einmal ruhn“, scheint am Ende eines von Pandemiefolgen, Krieg und Inflation geprägten Jahres vielen Menschen ein Bedürfnis.

Je krisenhafter und turbulenter die Zeiten, desto größer die Sehnsucht nach Verlässlichkeit und nach Vertrautem. Dazu gehören für viele – auch Nichtgläubige – die Traditionen des Weihnachtsfestes, von der Bescherung über den Kirchgang bis zur Weihnachtsgans. Je schneller sich in unsicheren Zeiten die Verhältnisse verändern, desto stärker das Festhalten an positiv verankerten Erlebnissen und Erinnerungen. Es ist ja auch viel angenehmer, die romantisierende Geschichte von der Herbergssuche in Bethlehem und der Geburt Jesu in einer Krippe im Stall zwischen Ochs und Esel zu hören, als Berichte von zerbombten Unterkünften in Kiew, von Flüchtlingen und Notgeburten in ukrainischen Luftschutzbunkern.

Bei allem Verständnis für Auszeiten von der Wirklichkeit – es waren und sind regelmäßig Krisenzeiten, die die Menschheit voranbringen. In denen neues Denken ebenso seinen Durchbruch findet wie technologischer und wirtschaftlicher Fortschritt. Der Ökonom Joseph Schumpeter hat dies in seiner Theorie von der Schöpferischen Zerstörung verankert. Und der Historiker Harold James hat die wirtschaftlichen und politischen Krisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts analysiert, deren Folge jeweils nicht weniger, sondern mehr Globalisierung war. Der Princeton-Professor stellt übrigens sein jüngstes Buch mit dem Titel „Schockmomente: Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung – 1850 bis heute“ im Januar in Frankfurt bei einer gemeinsamen Veranstaltung des CFS Center for Financial Studies und des Instituts für Bank- und Finanzgeschichte vor. In dem Buch setzt er die großen wirtschaftlichen und politischen Krisen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute miteinander in Beziehung. Von den Hungersnöten ab 1840 über die Hyperinflation 1923, die Ölkrise der 1970er Jahre, die Finanzkrise 2008/09 bis zur Coronakrise lässt sich laut James beobachten, wie Versorgungsengpässe und steigende Preise politische Systeme wie auch ökonomisches Denken revolutionieren.

Vor diesem Hintergrund er­scheinen manche Bemühungen der Politik auf nationaler und europäischer Ebene zur Krisenbekämpfung wenig sinnvoll. Das Glätten von Volatilität, sei es durch Strom- und Gaspreisbremsen oder durch Zinsdeckel, unterdrückt die von Knappheit ausgehenden Preissignale. Wenn diese Informationen einer vermeintlichen Berechenbarkeit und Sicherheit zuliebe unterdrückt werden, schadet dies der Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft einer Gesellschaft, neudeutsch der Resilienz. Was passiert, wenn ein völlig über­zogener Schutz durch den Staat quasi über Nacht weggezogen wird, ist aktuell in China nach der plötzlichen Abkehr von der Null-Covid-Politik zu beobachten.

Selbst so schlimme Krisen wie die Covid-Pandemie ermöglichen unterm Strich aber für die Menschheit Entwicklungsfortschritte. Die Strukturen des Gesundheitssystems werden hinterfragt, medizinische Forschung wird in neue Richtungen gelenkt und zeigt Erfolge, wie beim mRNA-Impfstoff. Die andere große Krise des Jahres 2022, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, hat eine „Zeitenwende“ in der Außen- und Verteidigungspolitik ausgelöst, die zwar längst überfällig, aber politisch und gesellschaftlich noch nicht mehrheitsfähig war. Anders als bei der Besetzung der Krim im Jahr 2014 hat der Westen den abermaligen militärischen Angriff auf die Ukraine durch die Rote Armee nicht durch Wegschauen, Beschwichtigen und den Verweis auf Wirtschaftsinteressen wie Erdgaslieferungen beantwortet, sondern die Eskalation gewagt. Auch hier ist die Lehre, dass mangelnde Veränderungsbereitschaft, das Aufrechterhalten eines komfortablen Status quo und fehlende Risikobereitschaft am Ende teuer bezahlt werden müssen.

Krisen sind Chancen

Selbst eine Rezession, die möglicherweise im nächsten Jahr bevorsteht, hat ihre positiven Effekte. Historisch betrachtet sind es Phasen eines beschleunigten Strukturwandels. Die jahrelange Nullzinspolitik der Notenbanken hat die Kapitalkosten verzerrt und Marktbereinigungen verschleppt, die nun schlagartig virulent werden. Die dauerhafte Überstimulierung durch billiges Geld hat rechtzeitige strukturelle Anpassungen verhindert und die im zurückliegenden Jahr stark steigende, vor allem von der Angebotsseite getriebene Inflation begünstigt.

Ob die Inflation andere Krisen nach sich ziehen wird, wissen wir heute nicht. Sich auf das Unerwartete einzustellen, auf heilsame Krisen und schöpfe­risches Chaos, und nicht bei jeder Veränderung nach dem regulierenden und damit ­Chancen vereitelnden Staat zu rufen, sollte die Lehre am Ende des Jahres 2022 sein. Das Unvorhergesehene anzunehmen und es als Chance zu verstehen, das ist übrigens auch die Botschaft der Weihnachtsgeschichte von der Geburt des Gottessohnes in einer ärmlichen Krippe.

c.doering@boersen-zeitung.de

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