Sorgfaltspflichten

Lieferketten­gesetz ist eher ein Bürokratie­monsterchen

Verbände und Ökonomen verdammen das Lieferkettengesetz pauschal. Diese Haltung ist überzogen und realitätsfern.

Lieferketten­gesetz ist eher ein Bürokratie­monsterchen

Weder die Unternehmen noch die ausführenden Behörden seien auf die Anwendung des gerade in Kraft getretenen Lieferkettengesetzes vorbereitet: Diese Behauptung des Wirtschaftsverbandes BGA muss man einen Moment auf sich wirken lassen. Denn sie verrät mehr über die Geisteshaltung manches Lobbyisten als über die betroffenen Unternehmen und ist in diesem Sinne entlarvend. Der BGA ist in reger Gesellschaft: In den Wirtschaftsverbänden und unter Ökonomen gibt es einen klaren Hang, das Lieferkettengesetz pauschal zu verdammen – und das seit Jahren.

Seit 1. Januar müssen Unternehmen in Deutschland mit mindestens 3000 Mitarbeitern sicherstellen, dass ihre direkten Zulieferer in aller Welt im Umgang mit ihren Mitarbeitern grundlegende Menschenrechte achten. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – so das gesamte Wortungetüm – ist mit so mancher Zumutung für die Unternehmen verbunden. Völlig unbegründet ist der Unmut nicht. Aber die patzige Ihr-könnt-uns-mal-Haltung ist überzogen und realitätsfern – auch mit Blick nach Brüssel, wo sich noch viel striktere Sorgfaltspflichten anbahnen.

Das Ziel des Gesetzes ist klar: Produkte, die von Kindern, in Zwangsarbeit oder unter anderen menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt werden, sollen hierzulande keinen Markt haben. Auch um das Thema Umweltschutz geht es. Nun lässt sich trefflich darüber streiten, ob ein Hunderte Einträge langer Fragenkatalog zu diesem Zweck das beste Mittel ist. Von einem Bürokratiemonster ist deswegen die Rede. Doch erstens haben große Unternehmen, die das Lieferkettengesetz in die Pflicht nimmt, längst geschultes Personal, das sich mit Compliance und Berichtspflichten beschäftigt. Und zweitens hatte die Wirtschaft genug Zeit, sich auf das Lieferkettengesetz vorzubereiten.

Anderthalb Jahre sind vergangen, seit sich die damalige große Koalition Mitte 2021 nach einer wahren Lobby­schlacht und quälenden Verhandlungen auf die Einzelheiten unternehmerischer Sorgfaltspflichten geeinigt hat. Kleinere Unternehmen mit 1000 bis 3000 Mitarbeitern haben sogar noch ein weiteres Jahr Zeit zur Umsetzung. Schon vor Jahren ging ein unverbindlicher Fragenkatalog an die Unternehmen, um auf freiwilliger Basis Auskunft über ihre Lieferketten zu geben. Kaum ein Fünftel beteiligte sich. Die geringe Resonanz war ein Hauptgrund für die Politik, Ernst zu machen. Und zu den globalen Nachhaltigkeitszielen, aus denen sich das Lieferkettengesetz ableitet, hat sich Deutschland vor mehr als einem Jahrzehnt verpflichtet.

Angesichts dessen kann nun wirklich niemand behaupten, die Sorgfaltspflichten kämen aus heiterem Himmel. Sie kommen auch nicht zur Unzeit, wie mancher Verband weismachen will. Das Timing ist gerade nicht verkehrt, sondern im Gegenteil günstig: Die Pandemie hat Unternehmen für die Anfälligkeit ihrer globalen Lieferketten sensibilisiert. Diversifizierung ist das Gebot der Stunde. Gerade große Unternehmen mit ihren unzähligen Zulieferern prüfen ihre Lieferketten auf Herz und Nieren, um Schwachstellen ausfindig zu machen und zu beheben. Deshalb sind die Rufe nach einem „Belastungsmoratorium“ wohlfeil.

Das Lieferkettengesetz wird Unternehmen vor schmerzhafte Entscheidungen stellen und kann vereinzelt dazu führen, dass sie ihre Geschäftsbeziehungen mit ausländischen Zulieferern beenden müssen. Dieser Worst Case kommt womöglich auf Autobauer zu, die mit Zulieferern in der chinesischen Provinz Xinjiang zusammenarbeiten. Das geht aus einem Gutachten des wissenschaftlichen Diensts des Bundestags hervor. Denn dort gibt es erdrückende Hinweise auf staatlich organisierte Verbrechen gegen die Minderheit der Uiguren. Teile der deutschen Wirtschaft möchten hingegen business as usual mit China machen – eine Grundhaltung, die auch vor dem Hintergrund einer möglichen Eskalation des Taiwan-Konflikts irritiert.

Ein Knackpunkt in der Umsetzung des Lieferkettengesetzes wird sein, ob Mittelständler mit weniger als 1000 Mitarbeitern tatsächlich von den Sorgfaltspflichten verschont bleiben – oder ob größere Unternehmen diese auf sie abwälzen. Ob solche Sorgen berechtigt sind oder nicht, werden die kommenden Monaten zeigen. So oder so darf das den Blick für die Realität nicht verstellen: In der EU-Kommission gibt es Bestrebungen, Sorgfaltspflichten europaweit auszurollen. Auch wenn die Verhandlungen in einem relativ frühen Stadium sind, zeichnet sich bereits ab, dass in Deutschland wesentlich mehr Unternehmen betroffen sein werden. Mit Blick nach Brüssel schrumpft der Scheinriese Lieferkettengesetz erst recht zu einem Bürokratiemonsterchen.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.