So sehr ist Russland China bereits ausgeliefert
Von Eduard Steiner, Moskau
Wolle man verstehen, was in Russlands Wirtschaft vor sich geht, dann solle man künftig nicht mehr auf die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) schauen, riet Natalja Subarewitsch, Professorin der Moskauer Staatlichen Universität (MGU), kürzlich im Gespräch mit der Börsen-Zeitung: Das BIP nämlich werde durch die staatliche Rüstungsproduktion derzeit signifikant entstellt. „Ich würde eher darauf schauen, wie die Abhängigkeit von China zunimmt. Das wird große politische und wirtschaftliche Folgen haben. Um Russland zu verstehen, schauen Sie künftig sehr genau auf diese Kennzahl.“
Auch ein Blick auf die jüngste Vergangenheit gibt bereits eine klare Ahnung davon, welche tektonischen Verschiebungen im Wirtschaftsaustausch vor sich gehen, nachdem Russland vor einem Jahr den Krieg gegen die Ukraine gestartet hat und dafür mit einer beispiellosen Fülle westlicher Sanktionen belegt worden ist. Immer klarer zeigt sich, wie sehr und wie schnell sich Russland von seinem jahrzehntelangen Haupthandelspartner Europa wegbewegt.
Entsprechend schnell wendet es sich China zu. Der US-Think-Tank Rand Corporation etwa nennt China den Hauptnutznießer der Sanktionen. Mehr noch: China wird dieser Einschätzung zufolge auch der wichtigste Absatzmarkt für russische Produkte, was China noch mehr Hebel verschafft, hier seine Bedingungen zu diktieren.
In den Statements des chinesischen und des russischen Staatschefs, Xi Jinping und Wladimir Putin, anlässlich des Moskau-Besuchs von Xi ist von diesen Aspekten klarerweise keine Rede. Das ökonomische Zusammenrücken ist hier vielmehr Ausdruck einer umfassenden strategischen Partnerschaft zweier Nachbarn, die geschichtlich zwar ständig Probleme miteinander hatten und einander bis heute skeptisch beäugen, die aber angesichts der Rivalität mit dem Westen zur Nähe gewissermaßen verdammt sind.
Abnehmer von Öl und Gas
Vor diesem Hintergrund hat das bilaterale Handelsvolumen im vorigen Jahr den Rekordwert von 190 Mrd. Dollar erreicht. Das ist ein Plus von über 29% gegenüber 2021 und bedeutet, dass China über 22% des gesamten russischen Außenhandels abdeckt. Mit keinem zweiten Großhandelspartner ist Chinas Außenhandel so stark gestiegen. Das hat natürlich damit zu tun, dass drei Viertel (85 Mrd. Dollar) des chinesischen Imports aus Russland Rohstoffe waren – allen voran Öl und Gas. Deren Preise sind infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine signifikant gestiegen.
Inzwischen weiß man auch, dass diverse Marktinformationen über einen starken Preisnachlass für russisches Öl in Asien insgesamt und in China im Besonderen nicht den Tatsachen entsprachen. Wie mehrere westliche Forschungszentren, darunter die University of California, im Februar darlegten, wurde russisches Öl selbst noch im Dezember 2022 praktisch ohne Preisabschlag gegenüber der europäischen Sorte Brent nach China geliefert. Das liege einfach daran, dass die Chinesen vorwiegend und traditionell die teurere ostsibirische Sorte ESPO kaufen, die im Übrigen auch nicht von den ab Dezember wirksamen Sanktionen gegen die russische Hauptsorte Urals betroffen sei, wie der Moskauer Energieberater Michail Krutichin im Gespräch mit der Börsen-Zeitung erklärt.
Je weniger Russland im Westen verkauft, umso wichtiger wird China. Die Tendenz dazu hatte sich schon vor über zehn Jahren abgezeichnet und ist staatliches Programm. Doch während sie über Jahre langsam nach oben zeigte, vollzog sie nach dem Beginn des Ukraine-Krieges einen wahren Sprung. Hatte China im Jahr 2021 noch 14% des russischen Exports auf sich vereinigt, so waren es im Kriegsjahr 2022 bereits an die 20%.
Bei den Importzahlen aus China wird die Abhängigkeit noch um einiges deutlicher. Einmal abgesehen davon, dass hier mit 76 Mrd. Dollar ein neuer Rekordwert erzielt wurde, hat sich Chinas Anteil am russischen Gesamtimport von 25% im Jahr 2021 auf inzwischen etwa 30% erhöht. Iikka Korhonen, Ökonom der finnischen Zentralbank, betonte bereits Ende 2022, dass nach Nordkorea nun kein Land so sehr vom Import aus China abhängig sei wie Russland. Und diese Abhängigkeit ist im Januar und Februar weiter gestiegen.
China packt die Gelegenheit beim Schopf, dass Russland vom Westen isoliert wird und viele Waren zumindest auf direktem Wege nicht mehr erhalten kann. Doch zeigen Analysen, dass China hier vorsichtig vorgeht, um nicht mit sekundären Sanktionen durch den Westen belegt zu werden. Ein Beispiel ist die Automobilindustrie: Der freiwillige Rückzug westlicher Autobauer aus Russland hat große Lücken für chinesische Konkurrenten aufgetan. Und in der Tat nützen sie diese eifrig. Auffällig aber ist, dass just nicht jene großen chinesischen Hersteller nach Russland gehen, die auch Geschäft im Westen haben, sondern ein Dutzend No-Names der zweiten Reihe. Überhaupt lassen nennenswerte chinesische Investitionen in Russland auf sich warten. Zum Mangel an Vertrauen – so Experten im Gespräch – komme auch hier die Angst vor sekundären Sanktionen in Spiel.
Wie wichtig China für Russland auch sein mag: Für China sind der Westen und die südostasiatischen Asean-Staaten prioritär, und Russland hat nur die Rolle des Juniorpartners. Von allen chinesischen Exporten gehen gerade einmal 2% nach Russland, beim gesamten chinesischen Handelsvolumen macht der nördliche Nachbar 3% aus.