Verheißungsvolle 90-Grad-Wende
Wer die Landschaft rund um die Kleinstadt Kiruna im hohen Norden Schwedens kennt, der ahnt, dass die Eröffnung einer neuen Rohstoffmine dort keine große Sache ist. Und dass Szenen, wie sie sich momentan im rheinischen Lützerath abspielen, kaum zu erwarten sind. Seit Beginn des vorigen Jahrhunderts ist Kiruna das Herz der schwedischen Erzindustrie, beherbergt heute die weltgrößte unterirdische Erzgrube. Dass für deren Erweiterung auch mal Teile der Stadt kilometerweit verlegt werden, nehmen die Einwohner achselzuckend hin – schließlich ist der staatliche Minenbetreiber LKAB der mit Abstand wichtigste Arbeitgeber der Region.
Das muss man aus ökologischer und sozialer Perspektive nicht zwangsläufig gut finden. Doch nach den jüngsten Meldungen bekommt Kiruna wohl schon bald eine noch viel mächtigere Rolle im globalen Rohstoffgeschäft – und das ausgerechnet für die grüne Transformation der europäischen Industrie.
Zeitlich perfekt synchronisiert mit dem Beginn der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft hat der Rohstoffkonzern LKAB bekannt gegeben, dass er ganz in der Nähe von Kiruna das größte bekannte Vorkommen Seltener Erden in Europa entdeckt hat. Die Lagerstätte umfasst den Angaben zufolge mehr als eine Million Tonnen an Seltenerdoxiden. Im globalen Vergleich ist das eine durchaus beachtliche Menge – die die Karten im weltumspannenden Poker um die extrem begehrten Rohstoffe neu mischen könnte. Schließlich würde sie beispielsweise ausreichen, um Europas Elektromotor-Hersteller mit einem Großteil der notwendigen Bauteile zu versorgen.
Dass der westliche Lebensstil, der längst auf Smartphones, Laptops und der Omnipräsenz digitaler Displays aufbaut, ohne die Seltenen Erden nicht möglich wäre, ist keine neue Erkenntnis. Doch ohne diese Rohstoffe, die in für die Umwelt eher maximalinvasiven Verfahren gefördert werden, wäre für Europas Industrie auch der alternativlose Weg in die Klimaneutralität undenkbar. Ohne Seltene Erden keine Elektroautos, keine Ladeinfrastruktur, keine Solar- und Windkraftwerke – ergo: keine grüne Transformation.
Bislang freilich muss Europa die kostbaren Rohstoffe nahezu vollständig importieren. Die Abhängigkeit von Lieferanten aus China ist dabei wesentlich dramatischer, als es die Abhängigkeit von Öl- und Gaslieferungen aus Russland vor dem Überfall auf die Ukraine war. Eine Förderung Seltener Erden in Schweden wäre ein großer Schritt hin zu mehr Versorgungssicherheit für die hiesige Industrie. Wie schon bei Öl und Gas hofft Europa nun auch hierbei auf eine 90-Grad-Wende in den Lieferketten: weg vom Nahen und Fernen Osten, hin zum hohen Norden.
Die Sache hat nur einen Haken: Mit den gängigen Planungs- und Genehmigungsprozessen wäre das schwedische Rohstoffvorkommen frühestens in zehn bis 15 Jahren förderbar. Helfen soll, so versichern Schweden und EU eilfertig, die rasche Einführung eines Gesetzes für kritische Rohstoffe, das die Erschließung wichtiger Vorkommen beschleunigen soll. Doch angesichts der explodierenden Nachfrage etwa nach Elektronikbauteilen, die Seltene Erden enthalten, wird es ohne die Erschließung zusätzlicher Lagerstätten in Europa dennoch nicht gehen. Ebenso wenig ohne eine nachhaltige Recyclingstrategie, die den Bedarf für immer neue Rohstoffe senkt.
Notwendig dafür ist aber ein industriepolitischer Wandel: Das Verständnis und die Akzeptanz, dass die industrielle Zukunft Europas nur in grünen, klimaneutralen und nachhaltigen Produkten und Technologien liegen kann. Und dass sie sich einen Wettbewerbsvorteil verschafft, wenn sie die viel zu oft belächelten ESG-Ansätze nicht mehr als Hindernis betrachtet, sondern als USP. Die unrühmliche Vergangenheit gerade in Deutschland ist eine Warnung: Der politisch mitverschuldete Niedergang der einst boomenden deutschen Solarbranche und zahlreicher Hersteller von Windkraftwerken hat die Industrie weit zurückgeworfen auf ihrem einst aussichtsreichen Weg zu einer Führungsrolle bei nachhaltigen Zukunftstechnologien und -energien.
In der Erschließung der schwedischen Rohstoffvorkommen liegt deshalb eine gewaltige Chance für den Kontinent. Wenn er sie erkennt, ergreift und konsequent nutzt. Andernfalls bliebe Europas Industrie weiter gefangen in einer Lieferabhängigkeit, die gerne ausblendet, unter welch miserablen Bedingungen für Mensch und Natur die begehrten Rohstoffe gefördert werden – an Orten, die viele hiesige Konsumenten nicht einmal auf der Landkarte finden würden.