Wider die Ökonomisierung der Gesundheit
Über Deutschland und „die Deutschen“ gibt es im Ausland einige Annahmen, die sich – teilweise zu Recht – wacker halten. Zum Beispiel, dass deutsche Touristen einen unsäglichen Kleidungsstil haben. Dass Bildung hierzulande kostenlos ist. Dass der Föderalismus eine eher chaotische Staatsform ist. Und, natürlich, dass Deutschland eines der besten Gesundheitssysteme der Welt hat. Zum Glück, denn in der Coronavirus-Pandemie kam das deutsche Gesundheitssystem zwar an seine Grenzen, kollabierte jedoch nicht. Die Pandemie zeigte jedoch deutlich die Schwachstellen des Systems auf.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will diese nun mithilfe einer umfassenden Reform ausmerzen und eine „Durchökonomisierung der Medizin“ verhindern, wie er bei der Vorstellung der ersten Vorschläge ankündigte. „Wir haben die Ökonomie zu weit getrieben. Eine gute Grundversorgung für jeden muss garantiert sein und Spezialeingriffe müssen auf besonders gut ausgestattete Kliniken konzentriert werden“, sagte Lauterbach in der Bundespressekonferenz Anfang Januar. Der Ansatz ist gut, doch der Föderalismus könnte sein Vorhaben erschweren.
Einer Befragung von Ipsos im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen zufolge sind mehr als zwei Drittel der gesetzlich Versicherten mit dem solidarischen Gesundheitssystem insgesamt zufrieden und der Meinung, dass sich dieses während der Coronakrise bewährt habe. Anders sieht dies das Bundesgesundheitsministerium – und Ökonomen. Viele Mängel des Gesundheitssystems sind seit langem bekannt. Allen voran der Personalmangel. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) ermittelte 2022, dass 41% der befragten Bürger den größten Handlungsbedarf beim Personal sehen, das zu wenig Zeit für die Patienten habe. 25,4% nannten zu lange Wartezeiten auf einen Termin, 14,9% zu hohe Krankenversicherungsbeiträge.
Aber auch Fallpauschalen, mangelnde Investitionen, das Stadt-Land-Gefälle bei der medizinischen Versorgung und das Krankenhaussystem gelten nicht erst seit Corona als Schwachpunkte. Letzteres will Lauterbach umfassend ummodeln. Erste Vorschläge einer Regierungskommission aus dem Gesundheitsministerium liegen seit Anfang Dezember auf dem Tisch. Bis zum Sommer sollen sie konkretisiert und dann in Gesetzesvorhaben gegossen werden.
Die Diagnose
Bei der Diagnose sind sich Regierungskommission und Ökonomen – etwa vom Kronberger Kreis – weitgehend einig: Es fehlt an Geld und Planung. Hinzu kommt der Fachkräftemangel. Im Grundsatz besteht das deutsche Krankenhaussystem aus zu vielen kleinen Krankenhäusern mit zu vielen Krankenhausbetten bei zu hohen Betriebskosten und zu geringen Investitionen – es ist quasi ein Patient mit einem Polytrauma. Schon 2019 – also noch bevor das Coronavirus seinen Weg nach Westeuropa fand – veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie mit der Forderung, dass viele kleinere und unwirtschaftliche Krankenhäuser geschlossen und dafür größere Häuser besser ausgestattet werden müssten.
In eine ähnliche Kerbe schlägt die Analyse des Kronberger Kreises, dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Marktwirtschaft: Die zu vielen kleinen Kliniken können aufgrund ihrer schlechten Ausstattung und mangelnden Erfahrung nur eine schlechtere Behandlungsqualität gewährleisten. Hinzu kommt, dass zu viele Krankenhausbetten vorgehalten werden, die aber nur dann wirtschaftlich rentabel sind, wenn sie belegt werden. Denn dann können die Krankenhäuser die Behandlungsentgelte einstreichen. Der Anreiz, medizinisch unnötige, aber ökonomisch gewollte Eingriffe durchzuführen, steigt so.
Nicht zuletzt kritisiert der Kronberger Kreis um den Ökonomen Berthold Wigger die Finanzierung des Systems. Diese fußt auf zwei Stützen: den Investitionen der Bundesländer – denn Gesundheit ist in Deutschland Ländersache – und den Einnahmen aus dem Betrieb. Zwar sind die Bundesländer laut Krankenhausgesetz (KHG) zur Investition verpflichtet, kommen dieser Verantwortung jedoch nur unzureichend nach. Seit 1991 haben sich die KHG-Mittel der Länder preisbereinigt nahezu halbiert, berechnet Wigger. „Aus Sicht der Bundesländer ist das verständlich: Wenn sie mehr in die Krankenhäuser investieren, belasten sie ihre Haushalte“, erklärt Wigger. „Das Problem ist nur: Stand jetzt belasten sie alle Versicherten – bundesweit.“
Denn die Krankenhäuser versuchen durch Betriebseinnahmen, die sogenannten Fallpauschalen (DRGs), die ausbleibenden Investitionen zu kompensieren. Das führt dazu, dass vieles, was vielleicht ambulant – oder gar nicht – behandelt werden müsste, stationär abgerechnet wird, denn das ist für die Häuser am lukrativsten. Das führt dazu, dass Deutschland unter den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die meisten Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner vorhält, nämlich mehr als 9. Gleichzeitig ist Deutschland auch bei der Belegungsrate der Krankenhausbetten in der OECD-Spitzengruppe. Bezahlt werden diese Leistungen von der Solidargemeinschaft aller Versicherten.
Die konservative Therapie
Die Finanzierung der Krankenhäuser steht im Fokus der Vorschläge der Regierungskommission. Diese verknüpfen nach eigener Aussage „eine bedarfsgerechte Krankenhausplanung der Länder mit einer neuen Vergütungssystematik“. Die Behandlung der Patienten soll künftig stärker medizinisch und deutlich weniger ökonomisch getrieben sein.
Dafür werden drei Stufen der Krankenhausversorgung eingeführt – von der Grundversorgung (Level 1) über die Regel- und Schwerpunktversorgung (Level 2) bis hin zur hoch spezialisierten Maximalversorgung (Level 3) etwa durch Universitätskliniken. Nach Vorstellung der Kommission sollen die Häuser aus Level 1 eine „wohnortnahe Versorgung“ garantieren und eine Brücke zwischen ambulanter und stationärer Behandlung schlagen. Finanziert werden sie über Tagespauschalen.
Außerdem soll ein System von Leistungsgruppen eingeführt werden, das spezifischer ist als die bisherigen Fachabteilungen – künftig heißt es also etwa „Kardiologie“ statt „Innere Medizin“. Behandlungen sollen zudem nur noch abgerechnet werden können, wenn dem Krankenhaus die entsprechende Leistungsgruppe zugeteilt wurde.
Drittens sollen die Fixkosten über sogenannte Vorhalteleistungen finanziert werden. In Zukunft soll es einen festen Betrag geben, den die Häuser je nach ihrer Zuordnung zu einem jeweiligen Level erhalten, um so den wirtschaftlichen Druck auf diese zu mindern. Woher genau das Geld dafür kommen soll, bleibt die Kommission jedoch schuldig. Im Vorschlag heißt es zur Finanzierung der Reformvorhaben lediglich vage: „Um solche Verbesserungen in der Versorgungsstruktur zu fördern, sind Investitionen erforderlich. Daher empfiehlt die Regierungskommission die Neuauflage des Krankenhausstrukturfonds“. Dieser umfasst jedoch nur 500 Mill. Euro jährlich.
„Hier müssen wir langfristig die Kostensteigerungen durch eine Anhebung der Landesbasisfallwerte vernünftig refinanzieren“, fordert Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender der DKG im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Außerdem könne die geplante Level-Einteilung die flächendeckende Versorgung gefährden. Damit spricht Gaß einen sensiblen Punkt jeder Gesundheitsreform an: Die Bertelsmann-Studie, die 2019 berechnete, dass etwa die Hälfte der bestehenden Krankenhäuser geschlossen werden könnte, ohne die medizinische Versorgung zu gefährden, sorgte für einen öffentlichen Aufschrei.
Die invasive Therapie
Auch Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts und Mitglied des Kronberger Kreises, ist für Schließungen: „In Deutschland gibt es zu viele kleine Krankenhäuser. Sie bieten den Patienten kurze Wege, aber die Behandlungsqualität steigt mit zunehmender Spezialisierung und großen Fallzahlen. Das spricht dafür, die Zahl der Häuser zu verringern.“ „Weil Gesundheitsgüter so speziell sind, ist der Krankenhaussektor von einer ganzen Menge Verzerrungen gekennzeichnet“, sagt Public-Management-Ökonom Wigger der Börsen-Zeitung. So spielt für die Patienten beispielsweise die Erreichbarkeit der Krankenhäuser eine große Rolle. Dabei haben laut Wigger mehrere Studien belegt, dass die Überlebenschancen in spezialisierten Häusern höher sind – selbst wenn sich die Anfahrtszeit verdoppelt. Die Ökonomen fordern eine Zentralisierung der Krankenhausplanung. Dies würde Wigger zufolge die Orientierung an räumlichen Bedarfen und der Behandlungsqualität verstärken – und weniger von (lokal)politischen Befindlichkeiten abhängen.
Zudem setzt sich der Kronberger Kreis für eine monistische Finanzierung des Krankenhaussystems ein. „Das würde bedeuten, dass sowohl die Fix- als auch die Behandlungskosten auf denselben Personenkreis entfallen: die Beitragszahler“, so Wigger und versichert, dass es für Letztere nicht zwangsläufig teurer werden müsse. Denkbar wäre hier etwa ein gemeinsamer Länder-Fonds, in den alle Bundesländer bestimmte Pauschalen einzahlen, oder ein Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern für die Gesundheitsvorsorge.
Nicht zuletzt soll der Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern gestärkt werden. Denn „Wettbewerb steigert die Qualität“, weiß Wigger und verweist auf die Erfahrungen bei planbaren Eingriffen. Wer eine Knieprothese erhalten soll, vertraut eher der Klinik, die darauf spezialisiert ist. Eine stärkere Konzentration in der Krankenhausversorgung wäre der Spezialisierung dienlich und würde die Kosten insgesamt senken.
Die Reformvorschläge des Kronberger Kreises gehen deutlich weiter als die der Regierungskommission. Das Problem: Gesundheit ist wie Bildung Ländersache. Bis zur Sommerpause 2023 soll nach dem Willen des Bundesgesundheitsministeriums ein Vorschlag zur neuen Vergütungs- und Planungsstruktur entstehen, der mit den Ländern zu einem Gesetzentwurf weiterentwickelt werden soll. „Es wäre viel gewonnen, wenn man die Krankenhausplanung zentralisieren und den Föderalismus in der Krankenhausversorgung nicht zu einer heiligen Kuh machen würde“, schätzt Wigger die Folgen einer Reform ein.