DAS KONJUNKTURPROGRAMM

130 Mrd. Euro gegen die Jahrhundertrezession

Große Koalition bewilligt Konjunktur- und Zukunftsprogramm für zwei Jahre - Aus der Opposition kommt nur milde Kritik

130 Mrd. Euro gegen die Jahrhundertrezession

Mit einem Konjunktur- und Zukunftspaket über 130 Mrd. Euro – davon 120 Mrd. Euro aus der Bundeskasse – will die große Koalition die Wirtschaft in der Coronakrise wieder flottmachen. Herzstück ist eine kräftige, auf sechs Monate begrenzte Mehrwertsteuersenkung. Sie soll zu mehr Konsum animieren. wf Berlin – Das Konjunktur- und Zukunftspaket der großen Koalition ist bei der Opposition in Berlin nur auf milde Kritik gestoßen. Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock attestierte Schwarz-Rot, eine Lernkurve beschritten zu haben. Für die Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter ist das Konjunkturpaket “besser als erwartet”. Gleichwohl springe es zu kurz. Die Grünen sprechen von einer sozialen Schieflage und dringen auf eine Aufstockung der Hartz-IV-Regelsätze. Als Konjunkturimpuls hatten die Grünen “Kauf-vor-Ort-Gutscheine” vorgeschlagen.Die FDP bescheinigte der Koalition “gute Ansätze”. Das Paket sei aber “leider kein Zukunftsprogramm”, zeigte sich Vizefraktionschef Christian Dürr enttäuscht. Der Schwerpunkt liege auf kurzfristigen Konsumanreizen. Die FDP befürchtet ein Strohfeuer. FDP-Wirtschaftsexperte Michael Theurer genügt der Reformwille nicht. “Entlastung und Entfesselung der Wirtschaft bei Steuern, Abgaben und Bürokratie kommen zu kurz”, monierte er. Die Fraktionsvorsitzende der Linken, Amira Mohamed Ali, hält die “Konjunktur-Schrotflinte” der großen Koalition für nicht zielgenau. Besonders betroffene Branchen und kleine Unternehmen fielen durch das Raster. VerhandlungsmarathonDie Spitzen der regierenden Parteien von CDU, CSU und SPD sowie die Fraktionsvorsitzenden hatten sich nach 21 Stunden Verhandlung am späten Mittwochabend auf ein Konjunktur- und Zukunftspaket über 130 Mrd. Euro für dieses und nächstes Jahr geeinigt (siehe Übersicht). Größte Überraschung und mit das teuerste Element ist eine auf sechs Monate befristete Mehrwertsteuersenkung. Der reguläre Satz sinkt vom 1. Juli an von 19 % auf 16 %, der ermäßigte Satz von 7 % auf 5 %. Dies führt zu Steuerausfällen von 20 Mrd. Euro in diesem Jahr. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte noch am Abend, jetzt sei der richtige Zeitpunkt für das Konjunkturpaket samt Mehrwertsteuersenkung. CSU-Chef Markus Söder sagte, die nächsten sechs Monate seien entscheidend für die Wirtschaft. Da wirke die Mehrwertsteuersenkung am schnellsten und effektivsten. Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sagte: “Wir wollen mit Wumms aus der Krise kommen.” Angesichts der Reserven im Bundeshaushalt hält er die zusätzliche Staatsverschuldung für verkraftbar. Scholz ließ offen, ob noch ein zweiter Nachtragshaushalt 2020 erforderlich sein wird. 156 Mrd. Euro zusätzlich hat der Bundestag in der Coronakrise bereits bewilligt.Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) nannte das Konjunkturpaket gestern einen “Stabilitätsanker im Sturm”. Zugleich warnte er: “Wir haben die Talsohle noch nicht durchschritten.” In den nächsten Wochen und Monaten stünden noch viele schwere Tage an. “Aber es gibt Licht am Ende des Tunnels.” Altmaiers Ministerium geht für dieses Jahr bislang von einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um 6,3 % aus.Das neue Hilfspaket umfasst einen Teil zur Konjunkturstützung sowie einen Teil, der in die Zukunft weist und Investitionen anstoßen soll. Nicht enthalten sind die Hilfen, die von der EU-Kommission angeschoben werden und für die Deutschland seinen finanziellen Teil beisteuern wird. Zudem wird die humanitäre Hilfe um 4 Mrd. Euro aufgestockt.Nicht einigen konnte sich die Koalition offenkundig auf ein Vorziehen des Teilabbaus des Solidaritätszuschlages, wie es die SPD vorgeschlagen hatte, oder die komplette Streichung, auf die die Union gedrungen hatte. Die Hälfte des Aufkommens des Solis fällt somit zum 1.1.2021 weg. Die übrige Hälfte müssen die einkommensstärksten circa 10 % der Steuerzahler schultern. Steuerliche HilfenUnternehmen profitieren von einem ausgeweiteten steuerlichen Verlustrücktrag für 2020 und 2021, der schon in der Steuererklärung 2019 genutzt werden kann. Der Betrag ist auf 5 Mill. Euro gedeckelt bzw. auf 10 Mill. Euro bei Zusammenveranlagung. Dies soll vor allem Liquidität für die Unternehmen schaffen. Für den Fiskus verschieben sich dadurch Steuereinnahmen von 2 Mrd. Euro. Zudem wird die degressive Afa (Abschreibung für Abnutzungen) um den Faktor 2,5 gegenüber den geltenden Regelungen ausgeweitet, begrenzt auf maximal 25 % pro Jahr. Dies dürfte zu einem Vorzieheffekt mit Steuerausfällen von 6 Mrd. Euro führen. Das Paket enthält auch die Option für Personengesellschaften, sich der Körperschaftsteuer zu unterwerfen. Zahlreiche Forderungen der Wirtschaft zur Reform des Steuersystems liefen indessen ins Leere. Auch die Automobilindustrie bekommt nicht die ersehnte Kaufprämie für Autos mit Verbrennungsmotoren. Den Kaufanreiz soll die Mehrwertsteuersenkung setzen. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) bedauerte, dass die Bundesregierung weitergehende Kaufanreize für emissionsarme Fahrzeuge abgeschmettert hat. Sein Bundesland ist Anteilseigner von VW.