75 Jahre NHS sind kein Grund zum Feiern
75 Jahre NHS sind kein Grund zum Feiern
Das britische öffentliche Gesundheitswesen steht vor dem Kollaps
hip London
Das britische öffentliche Gesundheitswesen wird 75. Zum Feiern gibt es allerdings keinen Grund, denn der National Health Service (NHS) steht vor dem Kollaps. Entsprechend leise wird das Jubiläum begangen. Es war ein Labour-Gesundheitsminister, Aneurin Bevan, der den NHS 1948 an den Start brachte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Wunsch nach einer staatlichen Gesundheitsversorgung in der Bevölkerung groß. Die Tories hatten etwas Vergleichbares ausgebrütet, kamen aber nicht zum Zug. Die Ärzteschaft war dagegen, denn sie hielt es für lukrativer, privat abzurechnen. Bei einer Abstimmung der British Medical Association (BMA) stimmten ein Jahr vor Einrichtung des NHS 86% dagegen, dem neuen Gesundheitssystem beizutreten. Das Versprechen, allen Bewohnern des Vereinigten Königreichs eine kostenlose Behandlung am Ort der Inanspruchnahme anzubieten, konnte bei der Zahngesundheit von Anfang an nicht eingehalten werden. Es erwies sich als folgenschwerer Konstruktionsfehler. Denn wenn etwas kostenlos zu haben ist, gibt es eine unbegrenzte Nachfrage. Die Mediziner fanden schnell heraus, wie man vom NHS profitieren konnte. In Großbritannien arbeiten so viele Allgemeinärzte in Teilzeit wie in keinem anderen Land. Sie tun das in der Regel nicht für eine bessere Work-Life-Balance, sondern um nebenbei Privatpatienten zu behandeln. Wer es sich leisten kann, muss keine halbe Ewigkeit in der Telefon-Warteschleife verbringen, um dann vor der NHS-Rezeptionistin abgewimmelt zu werden. Wer keine 18 Monate Zeit hat, auf eine Darmspiegelung zu warten, kann im Privatkrankenhaus kurzfristig einen Chefarzt dafür buchen. Derzeit warten 7,4 Millionen Menschen auf Behandlung durch den NHS. Ihre Zahl könnte noch weiter steigen, gab die Gesundheitsstaatssekretärin Maria Caulfield zu. Vermutlich ist sie nicht auf den NHS angewiesen. Rund ein Fünftel der Betroffenen gaben an, dass sich das Warten auf Behandlung auf ihre Arbeit auswirkt. Sie haben ihre Arbeitszeit reduziert oder sind langfristig krankgeschrieben. Ein Teil des Arbeitskräftemangels in Großbritannien geht darauf zurück. Statt die Wartelisten abzuarbeiten, führen NHS-Mitarbeiter wütende Arbeitskämpfe.
Das öffentliche Gesundheitswesen ist ein zentralisierter Moloch, in dem am Ende doch jeder macht, was er will. Seine Fürsprecher werden nicht müde, über die angeblich fehlenden finanziellen Mittel zu jammern. Doch gemessen am BIP wendet Großbritannien OECD-Daten zufolge so viel für das Gesundheitswesen auf wie die Schweiz: 11,3%. Dafür erhalten die Bürger denkbar schlechte Ergebnisse. Fragt man die vergleichsweise schlecht bezahlten Krankenschwestern oder Assistenzärzte im Krankenhaus, haben sie keine Ahnung, wohin all das Geld gegangen sein könnte, das seit der Pandemie in den NHS gepumpt wurde. Bei ihnen ist es nicht angekommen. Nach zahllosen Reorganisationsversuchen, die keine positive Wirkung entfalteten, ist das Gesundheitswesen seit Tony Blairs Einzug in 10 Downing Street zum Fass ohne Boden geworden. Es wird nur noch nachgeschenkt. Das von Labour-Politikern immer wieder an die Wand gemalte Schreckgespenst der Privatisierung von NHS-Dienstleistungen hat dagegen nicht in nennenswertem Umfang stattgefunden. Die Tories können es sich politisch nicht leisten, radikale Reformen im Gesundheitswesen voranzutreiben. Labour wird nichts anderes übrigbleiben. Immerhin, Premier Rishi Sunak hat eine langfristige Personalplanung erstellt. Bislang gab es nicht einmal das.