LEITARTIKEL

Abschied von Abe

In zwei Wochen trägt sich Shinzo Abe in die Geschichtsbücher ein. Dann stellt er einen neuen Rekord für die längste ununterbrochene Amtszeit aller 62 Premierminister Japans seit 1885 auf. Aber seine historische Leistung kann nicht davon ablenken,...

Abschied von Abe

In zwei Wochen trägt sich Shinzo Abe in die Geschichtsbücher ein. Dann stellt er einen neuen Rekord für die längste ununterbrochene Amtszeit aller 62 Premierminister Japans seit 1885 auf. Aber seine historische Leistung kann nicht davon ablenken, dass der 65-Jährige seinen Zenit überschritten hat. Laut Umfragen steht nur noch ein Drittel der Japaner hinter ihm. Seit Wochen sieht Abe gealtert und krank aus. Bei seinen wenigen Presseauftritten wirkte er müde und unkonzentriert, als ob er die Zügel der Macht schon aus der Hand gegeben hätte. Potenzielle Nachfolger bringen sich in Stellung, während die Presse die Umstände diskutiert, unter denen Abe vorzeitig abtreten könnte.Diese Entwicklung kommt nicht unerwartet. Unter normalen Umständen hätte sich Abe in diesen Wochen im Glanz der Olympischen Spiele in Tokio gesonnt und sich anschließend bei einer vorgezogenen Neuwahl im Herbst das Mandat geholt, seinen lebenslangen Traum einer Verfassungsreform zu verwirklichen. Mit diesem Ablauf im Hinterkopf schlugen einige Getreue schon vor, Abe solle über das Ende seiner Amtszeit im September 2021 hinaus weiterregieren. Aber es kam anders. Erst wanderte ein enger Abe-Freund, der frühere Justizminister Katsuyuki Kawai, wegen Stimmenkaufs ins Gefängnis, was die Japaner an viele andere Skandale der Abe-Partei LDP erinnerte. Dann musste Abe Olympia wegen der Pandemie verschieben und zeigte große Führungsschwäche. Den Notstand verhängte er relativ spät und die an sich großzügigen Finanzhilfen kamen bei den Betroffenen aufgrund der starken Bürokratie nur langsam an. Die laxen Antivirus-Maßnahmen sollten den wirtschaftlichen Schaden von Covid-19 begrenzen, doch Abe rechtfertigte seine Strategie kaum. Für einen Neustart fehlt ihm die Kraft.Die ersten Abgesänge auf seine knapp acht Amtsjahre fallen eher düster aus: Die Deflation sei wieder zurück, der Staat lebe mehr denn je über seine Verhältnisse. Die Geldpolitik habe zwar den Yen geschwächt und dadurch die Unternehmen gestärkt, aber die Wirtschaft sei zu wenig dereguliert worden. Über die Fairness solcher Urteile lässt sich streiten, weil sie Japans extreme Demografie ignorieren – das welthöchste Medianalter (48 Jahre), der global höchste Anteil von über 65-Jährigen (28 %) und der niedrigste Anteil von Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 Jahren (59 %). Im Vorjahr schrumpfte die Zahl der Japaner netto um eine halbe Million das elfte Jahr in Folge. Der Statistiker Ryuichi Kaneko sagt eine “Massentod-Gesellschaft” voraus, in der sich alles um die Alten und das Sterben drehen wird. Für solche Entwicklungen fehlt eine erprobte Wirtschaftspolitik. Viele Ökonomen dringen darauf, den Konsum zu fördern, um die Konjunktur anzukurbeln. Aber alte Leute kaufen nicht mehr viel und die wenigen jungen Leute sparen aus Sorge um ihre Zukunft.Betrachtet man Abes Politik unter dem Aspekt der extremen Demografie, dann sind ihm wichtige Reformen gelungen. Die gesetzliche Begrenzung von Überstunden, das Verbot von Mobbing durch Vorgesetzte und eine informelle Quote für weibliche Führungskräfte haben die Arbeitswelt attraktiver gemacht, so dass junge Mütter früher arbeiten gehen und mehr Hausfrauen erwerbstätig werden. Unter Abe hat Japan auch das Konzept eines festen Rentenalters aufgegeben. Wer über die staatliche Grenze hinaus arbeiten will, den muss der Arbeitgeber bis zum Alter von 70 Jahren (mit gekürzten Bezügen) weiterbeschäftigen. In der Folge sind die Erwerbstätigkeitsquoten von Frauen und Rentnern auf Rekordwerte gestiegen. Zugleich haben ein verstärkter Generika-Einsatz und eine Deckelung der Arzneipreise die Gesundheitskosten weniger stark steigen lassen, als man dies bei der hohen Seniorenquote erwarten würde.Unter Abe hat Japan den Nachweis erbracht, dass Wirtschaftswachstum auch mit einer schrumpfenden Bevölkerung möglich ist. Das ist ein starkes Erbe. Allerdings wird sich das Tempo vieler demografisch negativer Trends noch verschärfen. Der Nachfolger von Abe ist daher um seinen Job nicht zu beneiden. Die Arbeitsreserven der Bevölkerung sind in Kürze ausgeschöpft, dann können nur noch Maschinen die Produktivität steigern und den Wohlstand sichern. Das Ausland sollte genau beobachten, welche innovativen Antworten Japan auf Alterung und Schrumpfung findet. Denn wo die Inselnation heute steht, da kommen viele westliche Gesellschaften in 10 bis 15 Jahren ebenfalls an.——Von Martin FritzUnter Abe hat Japan den Nachweis erbracht, dass Wirtschaftswachstum auch mit einer schrumpfenden Bevölkerung möglich ist.——