NOTIERT IN LONDON

Absurdistan ist überall

Stellen Sie sich vor, es wird von Ihnen verlangt, zwei Bürgen für Ihr Kind zu finden. Beide müssen schriftlich niederlegen, dass sie es seit mindestens drei Jahren kennen, und persönliche Daten bis hin zur Nummer ihres Reisepasses angeben. Einer von...

Absurdistan ist überall

Stellen Sie sich vor, es wird von Ihnen verlangt, zwei Bürgen für Ihr Kind zu finden. Beide müssen schriftlich niederlegen, dass sie es seit mindestens drei Jahren kennen, und persönliche Daten bis hin zur Nummer ihres Reisepasses angeben. Einer von ihnen muss zudem beruflich seit mindestens drei Jahren mit dem Kind zu tun haben, also Lehrer, Sozialarbeiter, Krankenschwester oder Priester sein. So schwierig ist in Großbritannien die Einbürgerung für Kinder. Finanzielle Verpflichtungen sind für die Bürgen mit ihrer Unterschrift nicht verbunden, allerdings müssen sie von sich aus auf Gründe aufmerksam machen, die gegen eine Einbürgerung sprechen. Falsche Angaben können mit einer Haftstrafe oder einer hohen Geldstrafe geahndet werden. Angeblich geht es um eine hieb- und stichfeste Bestätigung, dass es sich bei der Person auf dem angehefteten Passfoto tatsächlich um den Antragsteller handelt. Für Erwachsene reicht es, wenn einer von ihnen einer vergleichsweise langen Liste von Berufsgruppen angehört. Wohlmeinende Nachbarn reichen nicht aus.Wer sich an der Einbürgerung versucht, stößt auf Schwierigkeiten, die er sich zuvor auch mit viel Fantasie nicht vorstellen konnte. Denn nur weil das Home Office Bürgen verlangt, kommen die Mitarbeiter der in die Pflicht genommenen öffentlichen Institutionen dem noch lange nicht nach. “Ihr Schreiben an Herrn X wurde an mich zur Beantwortung weitergeleitet”, antwortet die Schulsekretärin auf die Bitte an einen Lehrer, sich als Bürge zu engagieren. “Unglücklicherweise werden dabei persönliche Daten wie die Privatadresse abgefragt. Als Schule erlauben wir unseren Lehrern nicht, solche Informationen herauszugeben.” Viele Schulen wimmeln entsprechende Anfragen auf diese Weise ab, wie den einschlägigen Messageboards im Internet zu entnehmen ist. Denn sie wollen ihre Mitarbeiter davor schützen, dass am Abend unzufriedene Eltern vor ihrer Tür warten. Auch beim staatlichen Gesundheitswesen NHS wird Datenschutz großgeschrieben. Wurde einem ein Sozialarbeiter verordnet, könnte man diesen fragen, aber er würde wohl noch weniger Interesse haben, seine Adresse anzugeben. Schließlich ist das Verhältnis zwischen Betreuer und Betreutem meist nicht ganz spannungsfrei. Bleibt also nur Priester, Rabbi oder Imam, aber der ist im Zweifelsfall noch nicht lange genug für die Gemeinde zuständig. Man stellt in einer sich ständig im Umbruch befindenden Stadt wie London auch schnell fest, dass es gar nicht so viele Leute gibt, die man schon seit mindestens drei Jahren kennt. Willkommen in Absurdistan.Ginge es wirklich nur um die korrekte Identifizierung des Antragstellers, könnten das auch die Institutionen tun. Für Schulen, Arztpraxen oder Kirchengemeinden wäre es sicher kein großes Problem, ihren Stempel darunterzusetzen. Aber das Home Office traut den Institutionen nicht. Das würde man im Ministerium natürlich nie öffentlich zugeben, es wäre so gar nicht politisch korrekt. Da ist es doch viel einfacher, Bürgen zu verlangen, die persönlich haftbar gemacht werden können. Zudem zeugt es von einer gewissen Verankerung des Antragstellers in der Gemeinde, wenn er zwei Leute dazu bewegen kann, so etwas für ihn zu unterschreiben. Der Spielraum für den Beamten, der über den Antrag entscheidet, ist vergleichsweise groß, wenn man den Messageboards Glauben schenken darf. Pensionierte Ingenieure oder Wirtschaftsprüfer zählen offenbar ebenso viel wie beruflich noch aktive. Im Grunde scheint bei Anträgen von Erwachsenen die Hauptsache zu sein, dass einer der Bürgen einer Tätigkeit nachgeht, für die ein Hochschulabschluss erforderlich ist.Im Gegensatz zur Suche nach Bürgen ist es ein Leichtes, das Pubquiz zu bestehen, durch das die nötigen Kenntnisse von Kultur und Geschichte Großbritanniens nachgewiesen werden sollen. Weiß doch jeder, dass der erste moderne Tennisclub 1874 in Leamington Spa gegründet wurde. Sprachkenntnisse? Kein Problem.Doch Absurdistan ist überall: In Deutschland ist man sich noch nicht darüber im Klaren, ob man nach dem Brexit noch eine doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen will. Es droht der Verlust der deutschen. Schließlich ist das deutsche Recht darauf angelegt, Mehrstaatlichkeit zu vermeiden.