LEITARTIKEL

Alles oder nichts

Boris Johnson hat seine Coronavirus-Infektion nicht so locker weggesteckt, wie es ihm manche zugetraut hatten. Der unermüdliche Macher, von dessen Rückkehr in die Downing Street man sich mehr Hoffnung und Zuversicht versprochen hatte, wirkte bei...

Alles oder nichts

Boris Johnson hat seine Coronavirus-Infektion nicht so locker weggesteckt, wie es ihm manche zugetraut hatten. Der unermüdliche Macher, von dessen Rückkehr in die Downing Street man sich mehr Hoffnung und Zuversicht versprochen hatte, wirkte bei seinem ersten öffentlichen Auftritt ungewohnt zaghaft. Im Vergleich zu seinen Kabinettskollegen, die bei den Pressekonferenzen der Regierung für ihn eingesprungen waren, war er zwar immer noch erfrischend anders. Doch statt einen Weg aus der unhaltbaren Situation zu weisen, in der sich das Land befindet, vertröstete er auf später. Dabei sinkt die Zahl der täglichen Covid-19-Toten inzwischen, die der Neuinfektionen ebenso.Für Johnson geht es um alles oder nichts. Seine eigene Erkrankung hat ihm eine gewisse moralische Autorität verliehen. Er ist zum Jedermann geworden, in dem sich viele wiederfinden können. Ausgerechnet seine Tories, die als Totengräber des öffentlichen Gesundheitswesens NHS galten, profilierten sich als dessen Schutzmacht. Doch nun muss er einen Plan für den Ausstieg aus dem Lockdown vorlegen, bevor sich keiner mehr an die Ausgangsbeschränkungen hält. Die Stimmen aus seiner eigenen Partei, die nicht länger zusehen wollen, wie die Wirtschaft vor die Wand fährt, werden lauter. Seine Entscheidung, die Bewältigung der Pandemie an ein mehr oder weniger anonymes Expertengremium auszulagern, fällt ihm auf die Füße. Die Wissenschaftler werden ihm den Gefallen nicht tun, langsam die Rückkehr in die Normalität einzuleiten. Chief Medical Officer Chris Whitty sagte bereits, dass es vor Ende 2021 wohl weder ein wirksames Medikament noch einen Impfstoff gegen Covid-19 geben werde. Und das sind nun einmal die Voraussetzungen für ein Ende des gesellschaftlichen Ausnahmezustands.Johnson war zu sehr mit dem Brexit und seinem turbulenten Privatleben beschäftigt, um die politische Sprengkraft des Coronavirus zu erkennen. Die öffentliche Debatte folgt längst den Fronten des Kulturkampfs, der seit Jahren das politische Klima vergiftet. Jede Initiative zur Lockerung der Kontaktbeschränkungen dürfte auf den erbitterten Widerstand derjenigen stoßen, die es sich leisten können, ihr Infektionsrisiko anderen aufzubürden, indem sie sich in ihren Häusern verbunkern und alles Lebensnotwendige von Mindestlohnempfängern nach Hause liefern lassen. Anders als die Bewohner von Sozialwohnungsblocks verfügen sie über Gärten oder haben zumindest innerhalb ihrer Residenzen reichlich Auslauf. Anders als diejenigen, die ihnen Pizza, Post und Online-Einkäufe bringen, können sie von zu Hause arbeiten. Jeden Donnerstag um 20 Uhr kommen sie vor die Tür, um ihren Helden vom NHS zu applaudieren. Und wehe, jemand wagt es, die Kosten der Ausgangsbeschränkungen zu thematisieren. Dann kommt unweigerlich der Vorwurf, ihm sei Geld wichtiger als Menschenleben.Es überrascht vermutlich keinen, dass sich unter dieser bestens ausgebildeten Klientel viele Unterstützer einer Verlängerung der Brexit-Übergangsfrist finden, in der sich London und Brüssel auf die künftigen Handelsbeziehungen einigen sollen. Doch nachdem der Virus bereits dafür gesorgt hat, dass sich in Europa die Schlagbäume senken, ist ein Ausstieg ohne den Segen der EU für viele längst nicht mehr so furchteinflößend wie zuvor.Wer auf ein schnelles Ende der Kontaktbeschränkungen dringt, kann auf die Menschenleben verweisen, die durch die Zunahme von häuslicher Gewalt, psychischen Erkrankungen und Selbstmorden ein vorzeitiges Ende fanden. Die vorübergehende Fokussierung des NHS auf die Bekämpfung der Pandemie sorgte dafür, dass Krebspatienten unbehandelt blieben und zahlreiche Menschen an nicht erkannten Erkrankungen starben. Schulkinder könnten durch den Unterrichtsausfall für den Rest ihres Lebens abgehängt werden. Die Ankündigung von British Airways, bis zu 12 000 Mitarbeiter zu entlassen, zeugt von den wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die den Briten ins Haus stehen, wenn die Notstandsmaßnahmen auslaufen, mit denen Schatzkanzler Rishi Sunak bislang zahllose Unternehmen über Wasser hält.——Von Andreas HippinBoris Johnson hat die politische Sprengkraft des Coronavirus nicht erkannt. Die Debatte folgt den Fronten des Kulturkampfs, der das Land seit Jahren spaltet.——