LÄNDERREPORT: BELGIEN

Am seidenen Faden der Regionalpolitik

Solider Arbeitsmarkt - Wirtschaftliche Vielfalt mit hohem Offenheitsgrad - Trauriger Weltrekord in der Regierungsfindung

Am seidenen Faden der Regionalpolitik

Von Christian Melzer *)Ein armes Land sieht anders aus: In Belgien wurde 2011 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner in Höhe von 33 700 Euro erwirtschaftet. Damit haben die Belgier die vier großen Euro-Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien hinter sich gelassen. Zum Vergleich: Deutschland kam auf ein BIP pro Kopf von 31 700 Euro. Absolut betrachtet belegt Belgien mit einem Anteil von 4 % an der gesamten Wirtschaftsleistung der Europäischen Währungsunion den sechsten Platz, vor Österreich und hinter den Niederlanden.Einen Spitzenplatz innerhalb der Europäischen Währungsunion nimmt Belgien beim volkswirtschaftlichen Offenheitsgrad ein. Der Anteil der Exporte gemessen am BIP liegt bei 85 %, Deutschland erreicht hier einen Wert von 50 %. Diese hohe außenwirtschaftliche Verflechtung war maßgeblich dafür verantwortlich, dass Belgiens gesamtwirtschaftliche Aktivität im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 erstmals seit 1993 schrumpfte. Die wichtigsten Außenhandelspartner für Belgien sind Deutschland und Frankreich mit einem Anteil von 19 % bzw. 17 % an den gesamten belgischen Exporten. Westeuropa insgesamt kommt auf einen Anteil von 75 %.Ein wichtiges belgisches Exportgut wird beim Blick auf den Aktienindex Euro Stoxx 50 deutlich. Dort ist als einziges belgisches Unternehmen Anheuser-Busch Inbev vertreten. Das Unternehmen gilt als weltgrößter Bierbrauer mit 114 000 Beschäftigten und 200 Biermarken. Darunter sind Namen wie Beck’s, Löwenbräu, Franziskaner, Stella Artois und Budweiser. Im deutschen Biermarkt ist AB Inbev gemessen am Absatzvolumen die Nummer 2, hinter der Radeberger-Gruppe. Im Segment der Konsumgüterunternehmen belegt AB Inbev in der globalen Rangfolge den sechsten Platz.Die Schwergewichte im belgischen Aktienindex Bel 20 sind AB Inbev, Gaz de France Suez (französischer Versorger), Solvay (Chemie) und Group Bruxelles Lambert (Mischkonzern). Zusammen kommen die vier auf einen Anteil von 41 % am Gesamtindex. Von einer Erholung nach der Weltwirtschaftskrise 2008/09 ist der Bel 20-Index allerdings noch weit entfernt. Während der deutsche Aktienindex Dax nur 12 % unter seinem Allzeithoch aus dem Jahr 2007 notiert, hat sich der Bel 20-Index seitdem halbiert. Diese Entwicklung ist vergleichbar mit der des spanischen Aktienindex Ibex. Mitte November stand der belgische Aktienindex bei rund 2 350 Punkten – eine Marke, die erstmals 1997 erreicht worden war. Unter den vier großen Aktientiteln im Bel 20 ragt allerdings das Unternehmen AB Inbev heraus, dessen Aktienpreis sich im Vergleich zum Allzeithoch 2007 um 60 % erhöht hat. Eine deutliche Belastung in den vergangenen Jahren waren hingegen die Finanztitel Ageas (vormals Fortis), die KBC Group und Dexia. Seit März 2012 ist Dexia nicht mehr Bestandteil des Bel 20-Index. Drehscheibe AntwerpenDie belgische Volkswirtschaft als krisenanfällige Monokultur zu bezeichnen, wäre falsch. Für ein kleines Land mit nur 10,9 Millionen Einwohnern bietet Belgien vielmehr eine erstaunliche Vielfalt, wie ein Blick auf Antwerpen und Brüssel zeigt. So befindet sich einer der weltweit größten Chemieparks in der Region Antwerpen. Als Drehscheibe der belgischen Wirtschaft zeichnet sich Antwerpen durch zwei weitere Schwerpunkte aus: Der Hafen ist nach Rotterdam und knapp hinter Hamburg der drittgrößte Containerhafen Europas. Ferner gilt die Stadt traditionell als wichtigster Diamantenhandelsplatz. Heute wird Schätzungen zufolge die Hälfte der Rohdiamanten weltweit dort gehandelt. Ein weiterer wichtiger Wirtschaftsfaktor für Belgien sind mehr als 1 000 öffentliche und private internationale Organisationen. So haben beispielsweise der Europäische Rat, der Rat der Europäischen Union, die Europäische Kommission und das Nato-Hauptquartier ihren Sitz in Brüssel. Die Organisationen sorgen mit ihren Mitarbeiterstäben direkt und indirekt für tausende kaufkräftiger Einkommen.Die größte Schwachstelle und damit der größte Risikofaktor für den internationalen Anleger in Belgien ist die nationale Politik. Durch diese zieht sich seit Jahrzehnten ein tiefer Graben zwischen Französisch sprechenden Wallonen und Niederländisch sprechenden Flamen. Vorläufiger Höhepunkt des belgischen Regionalkonfliktes war die außerordentlich schwierige Regierungsbildung nach dem Auseinanderbrechen der Koalition unter Premierminister Yves Leterme im April 2010. Als Ergebnis der zwei Monate später angesetzten Neuwahl zogen zwölf Parteien in das Parlament ein. Stärkste Partei wurde zum ersten Mal mit 27 von 150 Sitzen die N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie). Sie wird als sozial-liberal eingestuft, allerdings auch als klar separatistisch mit dem Ziel, ein unabhängiges Flandern zu schaffen. Zweitstärkste Fraktion mit 26 Stimmen wurde die wallonische PS (Partie Socialiste). Der flämische Block hat zwar eine Mehrheit, ist aber selbst politisch zersplittert. Die Regierungsbildung gestaltete sich dementsprechend schwierig. Es sollten 541 Tage vergehen, bis die gegenwärtige Regierung Ende 2011 schließlich ihre Geschäfte aufnehmen konnte. Belgien hält damit einen einsamen Weltrekord für die längste Regierungsfindung. Ein wichtiger Treiber für eine Einigung waren schließlich die Märkte für Staatsanleihen. Im Sommer 2010 und in den Folgemonaten blieben die Anleihemärkte noch gelassen und sahen in den zähen Verhandlungen nur das übliche Pokerspiel zwischen Wallonen und Flamen. Die Renditen der zehnjährigen belgischen Staatsanleihen waren bis Herbst 2010 sogar auf 2,5 % gefallen, während Portugal und Italien bereits 7,0 % bzw. 4,5 % bieten mussten. Mit zunehmender Dauer der Regierungsfindung und verschiedenen missglückten Ansätzen wurden die Marktakteure allerdings zunehmend nervöser.Bei einer damaligen Schuldenquote von 95 % gemessen am BIP mit steigender Tendenz und einer sich verschärfenden Schuldenkrise in den Peripheriestaaten im Rücken war es ein Spiel mit dem Feuer der belgischen Parteien, insbesondere nachdem die Politiker konkrete Pläne für eine Spaltung Belgiens in die öffentliche Diskussion einbrachten. Als schließlich auch noch die Ratingagentur Standard & Poor’s im November 2011 Belgien auf “AA” heruntergestuft hat und Moody’s Belgien bereits mit einem “negative watch” versehen hatte, war die Geduld der Märkte aufgebraucht. Die Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen erreichte am 25. November 2011 knapp 6 %. Belgien war sehr kurz davor, in eine Reihe mit Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien eingeordnet zu werden. Zwang der MärkteDie Politik hat die Botschaft schließlich verstanden. Am 6. Dezember 2011 wurde eine neue Regierung vereidigt. Es ist eine Koalition aus Christdemokraten, Sozialisten und Liberalen jeweils in doppelter Ausführung, d. h. Französisch und Niederländisch sprechende Gruppierungen. Premierminister wurde der Sozialist Elio di Rupo, der erste belgische Regierungschef aus dem Französisch sprechenden Teil Belgiens seit 1974. Nicht vertreten in der Regierung ist die stärkste Fraktion im belgischen Parlament, die flämisch-separatistische NV-A. Die neue Regierung begann mit zwei substanziellen Erfolgen zur Entschärfung des Regionalkonfliktes. Erstens der Beilegung des seit 1963 existierenden Streits um den zweisprachigen Wahl- und Gerichtsbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde. Zweitens der Verabschiedung der sechsten Staatsreform, die die Regionen deutlich stärkt. Die Märkte haben die Einigung sehr positiv aufgenommen. Von knapp 6 % im November 2011 sind die Renditen der zehnjährigen belgischen Staatsanleihen mittlerweile unter 2,5 % gefallen. Belgien hat noch einmal die Kurve bekommen. Es wäre tragisch gewesen, wenn die belgische Wirtschaft allein durch regionale Zerrissenheit in eine schwere Rezession gerutscht wäre.Die volkswirtschaftlichen Daten des Landes lassen sich durchaus sehen. Während Euroland über die Krisenjahre von 2007 bis 2011 im Durchschnitt eine jährliche BIP-Wachstumsrate von 0,5 % aufgewiesen hat, kommt Belgien auf beachtliche 1,0 %. Entsprechend gut sieht es am belgischen Arbeitsmarkt aus. Das Land startete Anfang 2010 in die beginnende Euro-Schuldenkrise mit einer Arbeitslosenquote von 8,4 %. Mittlerweile liegt sie bei 7,4 %, während in Euroland ein historischer Anstieg auf 11,6 % zu beklagen ist. Die größere realwirtschaftliche Dynamik führte aber auch zu einer höheren Inflationsrate. Der belgische Durchschnitt lag zwischen 2007 und 2011 bei 2,4 % und in Euroland bei 2,0 %. Dieses Jahr dürfte aber für Belgien kaum mehr als eine Stagnation bei der BIP-Entwicklung möglich sein. Zu schwer wiegt die enge Verflechtung mit dem westeuropäischen Ausland angesichts der Rezession in Euroland durch die Peripheriestaaten. Aber Belgien dürfte auch 2012 oberhalb des Euroland-Durchschnitts liegen. Hoher SchuldenstandUnter dem Strich bleibt festzuhalten, dass Belgien nicht in die Ecke von Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien gehört. Ob dies auch in Zukunft so sein wird, hängt im Wesentlichen von der belgischen Politik ab. Realwirtschaftlich betrachtet hat Belgien gute Voraussetzungen, dass dies so bleibt. Aber bei einem Schuldenstand von rund 100 % gemessen am BIP und einer schwelenden Euro-Schuldenkrise gibt es wenig Spielraum für die belgische Politik, ihre regionale Spaltung erneut eskalieren zu lassen. Die Kommunalwahlen im Oktober machten in Flandern wie auf nationaler Ebene die separatistische NV-A zur stärksten Partei. An den Anleihemärkten wurde dies ohne Verwerfung zur Kenntnis genommen. Die Renditen der zehnjährigen belgischen Staatsanleihen liegen bei 2,25 %, die der spanischen hingegen bei 5,9 %. Die NV-A ist nicht in der Regierung vertreten, sodass die Kommunalwahlergebnisse nicht automatisch die Machtverhältnisse in der Koalition verändert haben, und die nächste nationale Parlamentswahl steht erst 2014 an. Dann tritt auch die wichtige sechste Staatsreform in Kraft, die den Regionalkonflikt etwas entschärfen sollte.—-*) Dr. Christian Melzer ist Volkswirt bei der DekaBank, Frankfurt.