Angst und Schrecken in Westminster
Von Andreas Hippin, LondonFür den Londoner Bürgermeister Sadiq Khan ist es die wichtigste Abstimmung im britischen Unterhaus seit dem Votum, mit dem seine Partei das Land 2003 in den Irakkrieg geführt hat. Am “Super Tuesday”, wie der 12. Juni in Westminster bereits genannt wird, müssen die britischen Abgeordneten in einer zwölfstündigen Marathonsitzung über die 15 Änderungen befinden, mit denen das nicht gewählte Oberhaus das wichtigste Brexit-Gesetz beladen hat. Premierministerin Theresa May will sie alle niederstimmen lassen. Khan drängte die Parlamentarier, Karriereinteressen hintanzustellen und sich parteiübergreifend für einen “weichen” Brexit einzusetzen. Die von den Peers durchgesetzten Zusätze haben es in sich. Es geht etwa um die Grenze zu Irland und die Möglichkeit einer Zollunion mit Resteuropa. Zudem soll das Austrittsdatum aus dem Gesetz gestrichen werden. Tory-Abgeordneten, die gegen die Regierung stimmen wollen, wurden die Konsequenzen klar aufgezeigt. In einem Fraktionsrundschreiben wurde darauf hingewiesen, dass das Verlassen der Zollunion Bestandteil des Wahlprogramms der Partei war. Abweichler dürften bei der nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt werden. Es wird trotzdem knapp. Anders als viele glauben, würde eine Niederlage Mays aber nicht den Verbleib in der bestehenden Zollunion bedeuten. Die Regierung müsste sich lediglich zur Möglichkeit eines Verbleibs äußern. Die Abstimmung ist jedoch ein wichtiger Test für das Votum über den Deal mit der Europäischen Union (EU), über den im Herbst abgestimmt wird, so es denn überhaupt zu einer Übereinkunft mit Brüssel kommt.Unterdessen stellte Downing Street die Veröffentlichung eines 150-seitigen Papiers zu den künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und Resteuropa zurück, offenbar weil man sich im Kabinett in wesentlichen Punkten nicht einig werden konnte. Das Dokument soll nun erst nach der Sitzung des Europäischen Rats Ende des Monats vorgelegt werden. Abgeordneten wie Kabinettsmitgliedern scheint nicht klar zu sein, dass die Uhr weiter tickt. Die politische Debatte ist von der Realität weit entfernt. Europa wartet nicht, bis die Grabenkriege in der konservativen Partei zu Ende sind. Ende März ist das Land nicht mehr Mitglied der EU – so oder so. Schon jetzt jagen Firmen aus der EU britischen Unternehmen Aufträge ab, beispielsweise für das Satellitensystem Galileo. May hat ihre Verhandlungsposition dadurch entscheidend geschwächt, dass keine Ressourcen dafür bereitgestellt wurden, sich auf ein “No Deal”-Szenario vorzubereiten. Nun kann sie nicht mehr so einfach vom Verhandlungstisch aufstehen, sondern wird vermutlich wesentlich schlechtere Bedingungen in Kauf nehmen müssen, als sonst erreichbar gewesen wären. Derweil werden aus der Ministerialbürokratie Horrorszenarien an die Medien durchgestochen, denen zufolge den Briten Lebensmittel, Medikamente und Treibstoff ausgehen werden, sollten sie es wagen, die EU ohne Deal zu verlassen. Ihnen liegt die merkwürdige Annahme zugrunde, die Staaten Resteuropas würden den Handel mit dem Vereinigten Königreich praktisch über Nacht einstellen. Eigentlich sollten auch unzufriedene Karrierebeamte daran arbeiten, Betriebsstörungen dieser Art zu vermeiden. Stattdessen bemühen sie sich nach Kräften, die Verhandlungsposition der Regierung zu schwächen. In Westminster herrscht währenddessen Angst und Schrecken, aber zumindest dürfte sich in der kommenden Woche zeigen, ob Labour-Politiker wie Khan und Chuka Umunna die Abgeordneten der Partei wirklich für den Verbleib in der Zollunion begeistern konnten. Im Wahlprogramm der ehemaligen Arbeiterpartei steht etwas anderes. —–Während der Brexit näher rückt, entfernt sich die politische Debatte in Großbritannien immer weiter von der Realität.—–