GASTBEITRAG

Anleihekäufe der EZB als Ultima Ratio

Börsen-Zeitung, 17.10.2019 Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit steht EZB-Präsident Mario Draghi mal wieder unter Beschuss. Gegenstand der Kritik sind vor allem die erneuten Anleihekäufe. Diese seien eigentlich grundsätzlich abzulehnen. Zudem hätten...

Anleihekäufe der EZB als Ultima Ratio

Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit steht EZB-Präsident Mario Draghi mal wieder unter Beschuss. Gegenstand der Kritik sind vor allem die erneuten Anleihekäufe. Diese seien eigentlich grundsätzlich abzulehnen. Zudem hätten sie starke negative Nebenwirkungen und seien wenig effektiv. Folglich sollten sie nur als Ultima-Ratio-Instrument Verwendung finden.Das Ultima-Ratio-Argument klingt plausibel. Warum sollte man ein Instrument, das so viele Probleme hat, einsetzen, wenn man es gar nicht braucht. Schließlich tragen die Anwohner von Rhein und Mosel auch nicht beim ersten Regenguss ihre Kellermöbel in die weiter oben gelegenen Wohn- und Schlafzimmer, sondern heben dies als Ultima-Ratio-Maßnahme für den Fall auf, dass der Fluss wirklich über die Ufer tritt. Eine Inflationsrate von 1 % ist aber bestenfalls ein etwas stärkeres Gewitter, das man aussitzen sollte, statt in schädliche Hektik zu verfallen. Inflationsziel verfehltDie EZB sieht das anders und verweist auf das Inflationsziel von knapp unter 2 % in der mittleren Frist. Seit Draghis Amtsantritt beträgt die Euro-Inflationsrate im Durchschnitt aber nur 1,2 %. Das ist nach jeder vernünftigen Definition von “mittlerer Frist” eine klare Zielverfehlung. Entsprechend stellt sich die Frage, wie die Kritiker argumentieren würden, wenn die durchschnittliche Inflationsrate spiegelbildlich bei 2,8 % liegen würde. Würden sie dann auch einer (weiteren) Zinsanhebung mit den Argumenten widersprechen, die Geldpolitik ziele zu sehr auf die kurze Frist und sollte die negativen Nebenwirkungen von Zinserhöhungen für Beschäftigung und Wachstum berücksichtigen?Allerdings ist eine weitere Zinssenkung angesichts der Nullzinsgrenze nicht mehr möglich. Dies wirft ja gerade die Frage auf, ob Anleihekäufe ein normales Instrument der Geldpolitik sind, wenn die Zinssenkungspoteniale ausgeschöpft sind, oder eben nur ein Ultima-Ratio-Instrument. Zur Beantwortung dieser Frage wäre es wichtig zu wissen, ob garantiert ist, dass das Instrument im Ultima-Ratio-Fall auch tatsächlich die Deflation verhindert. Dazu müsste im ersten Schritt der Fall definiert, also geklärt werden, bei welcher Inflation beziehungsweise Inflationserwartung die Ultima Ratio angesagt ist. Müssen Inflation und Inflationserwartungen unter 1 % oder noch tiefer fallen? Anschließend wäre zu klären, welche Volumina die Ultima-Ratio-Anleihekäufe aufweisen müssen, um effektiv zu sein. Welche Alternativen?Da die EZB-Kritiker behaupten, dass in den letzten Jahren keine Deflationsgefahr bestand (ohne dafür einen Beleg zu liefern), hatte aus ihrer Sicht der massive Anleihekauf zwischen 2015 und 2018 offensichtlich kaum einen Einfluss auf die Inflationsrate, weil sie ja weiterhin so niedrig ausfiel. Dann wären Anleihekäufe für den Ultima-Ratio-Fall aber denkbar ungeeignet. Denn wie sollen sie den Absturz in die Deflation verhindern, wenn sie schon jetzt keine Wirkungen auf die Inflationsrate hatten? Schließlich stellt sich die Frage, ob dann die ordnungspolitischen Bedenken gegenstandslos und die Nebenwirkungen sekundär sind und warum. Wenn nicht, gibt es aus Sicht der EZB-Kritiker andere, wirksamere Instrumente, die im Ultima-Ratio-Fall zum Einsatz kommen könnten, um Preisstabilität zu garantieren? Welche Instrumente sind das?Auf diese Fragen gibt es kaum Antworten. Daher kann sich das Publikum kein Bild über die Risiken der geldpolitischen Empfehlung machen, jetzt auf Anleihekäufe zu verzichten, falls entgegen der Erwartung der EZB-Kritiker in den nächsten Monaten Inflation und Inflationserwartungen weiter sinken. Während also alle Welt über Risiken und Nebenwirkungen der Draghi-Politik debattiert, redet keiner über die Risiken und Nebenwirkungen der Alternative. Dass unter diesen Bedingungen die EZB schlecht wegkommt, ist verständlich. Trotzdem weiß jeder verantwortungsvolle Hausbesitzer an Rhein und Mosel: Für den Einsatz des Ultima-Ratio-Instrumentes ist es zu spät, wenn der Keller vollgelaufen ist. Angesichts der Qualität der Inflationsprognose mancher EZB-Kritiker in den vergangenen acht Jahren – die Prognosen waren viel zu hoch – , scheint es umsichtig zu sein, auf diese Gefahr hinzuweisen.Adalbert Winkler, Professor für International Finance, Frankfurt School