Anzeichen für höheren neutralen Zins
Anzeichen für höheren neutralen Zins im Euroraum
EZB-Untersuchung legt Anstieg seit 2019 nahe – Auch Inflation könnte strukturell höher liegen – Viel Unsicherheit
mpi Frankfurt
Das Zinsniveau, das die Wirtschaft weder stimuliert noch abbremst, könnte höher liegen als noch vor der Pandemie. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung der Europäischen Zentralbank (EZB) zum sogenannten neutralen Zins, den Ökonomen auch als natürlichen Zins bezeichnen. „Während die Schätzungen für den Euroraum in einer Reihe von Modellen stark variieren, ist die mittlere Schätzung im Vergleich zu den Werten von Mitte 2019 um etwa 30 Basispunkte gestiegen“, teilt die EZB am Mittwoch mit.
Hohe Unsicherheit
Der neutrale Zins spielt für die Geldpolitik eine bedeutende Rolle. Für Notenbanken ist es wichtig zu wissen, ob die aktuelle Geldpolitik die Wirtschaft stimuliert oder abbremst. Was wiederum Auswirkungen auf die Inflationsentwicklung hat. Allerdings lässt sich der natürliche Zins nicht exakt berechnen, sondern anhand von Modellen und Konjunkturdaten nur schätzen. Es gilt unter Notenbankern und Ökonomen als sicher, dass die aktuellen Leitzinsen im Euroraum die Wirtschaft abbremsen. Offen ist jedoch, wie stark diese fallen müssten, bis dies nicht mehr der Fall ist.
Lieferkettenstörungen und sehr hohe Energiepreise infolge der Pandemie und des Kriegs in der Ukraine dürften nicht nur die Inflation, sondern auch den neutralen Zins erhöht haben, mutmaßen die EZB-Ökonomen in ihrer Untersuchung. Langfristige Faktoren wie die Produktivität der Wirtschaft, der demografische Wandel oder die Höhe der Ersparnisse hätten den neutralen Zins zuletzt aber wohl nicht beeinflusst, meinen die EZB-Ökonomen. Insgesamt sei die Unsicherheit bei den Schätzungen jedoch hoch.
Auswirkungen auf Geldpolitik
Dies betonte auch EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel am Mittwoch in einem Interview der „Financial Times“. „Der neutrale Zins ist konzeptionell sehr wichtig für die angemessene Kalibrierung der Geldpolitik“, sagte sie. „Das Problem ist, dass wir nicht genau wissen, wo er ist. Das bedeutet, dass wir, sobald wir beginnen, die Zinsen zu senken – und wie gesagt, wir sind noch nicht so weit –, vorsichtig und in kleinen Schritten vorgehen müssen.“ In der Praxis könnte dies laut Schnabel bedeuten, dass es eine erneute Zinspause braucht, wenn die Inflation hartnäckiger sei als gedacht und es unklar wäre, ob die Geldpolitik noch restriktiv auf das Wirtschaftswachstum wirke.
Ökonomen sind sich uneins, wie die EZB vorgehen sollte, sobald sie die Zinsen das erste Mal gesenkt hat. Manche halten es für sinnvoll, die Zinsen dann kontinuierlich von geldpolitischer Sitzung zu geldpolitischer Sitzung zu senken, bis das neue Zinsplateau erreicht ist. Andere Volkswirte sprechen sich hingegen dafür aus, dass die EZB bei jeder zweiten Sitzung die Zinsen konstant hält, um die Auswirkungen der bereits erfolgten Lockerung auf Inflation und Konjunktur länger zu beobachten. Allerdings macht sich ein Großteil der Auswirkungen erst deutlich später bemerkbar aufgrund der verzögerten Wirkung der Geldpolitik.
Inflation könnte strukturell gestiegen sein
Ob der neutrale Zins in den kommenden Jahren steigt, lässt sich schwer vorhersagen, wie das Beispiel des demografischen Wandels zeigt. Eine ältere Gesellschaft könnte über höhere Ersparnisse verfügen, da ältere Menschen mehr Zeit zum Sparen hatten als jüngere. Höhere Ersparnisse sprechen für einen gestiegenen neutralen Zins. Allerdings könnten die Ausgaben für medizinische Behandlung und Betreuung im Alltag auch derart steigen, dass die Ersparnisse der Gesellschaft nicht höher ausfallen.
Unter Notenbanker und Ökonomen wird ebenfalls darüber debattiert, ob die Inflation strukturell höher liegt als in der Vergangenheit. Wie beim neutralen Zins beeinflussen demografischer Wandel und Ausgaben für Digitalisierung sowie die grüne Transformation der Wirtschaft auch das Niveau der Inflation. Zudem droht die Lage im Welthandel die Inflation dauerhaft zu erhöhen, sollten Warenproduktionen aufgrund von geopolitischen Spannungen langfristig teurer werden.
Höheres Inflationsziel?
Manche Ökonomen sprechen sich deshalb dafür aus, dass die EZB ihr Inflationsziel mittelfristig anhebt. In der Notenbank selbst scheint dies – mindestens nach außen hin – kein Thema zu sein. „Wir haben nicht die geringste Absicht, unser Inflationsziel von 2% anzutasten“, sagte Schnabel im Dezember der „Süddeutschen Zeitung“. Solange die Inflation über 2% liegt, kann die EZB das Inflationsziel ohnehin schlecht anheben. Dies würde die Glaubwürdigkeit der Notenbank, für Preisstabilität zu sorgen, untergraben.